"Ich habe gern geordnete Verhältnisse"
Schweizer Familie (Peter Jost, Daniel Röthlisberger) - Sie gilt als bodenständig, zuverlässig und fleissig. Mit diesen eidgenössischen Werten repräsentiert sie die Schweiz. Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter sagt, warum Zusammenhalt in turbulenten Zeiten wichtig ist, sie sich Sorgen um die Verteidigungsfähigkeit der Armee macht und warum sie beim Boxtraining alles andere vergisst.
Frau Bundespräsidentin, bald feiert unser Land Geburtstag. Was ist typisch schweizerisch an Ihnen?
Ich bin bodenständig. Schon als Kind habe ich gelernt, dass man etwas leisten muss, statt nur zu fordern. Das hat mich geprägt.
Sind Sie ein Bünzli?
Im positiven Sinn, ja. Ich stehe zu Werten wie Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit. Ich habe auch gern geordnete Verhältnisse. Mittlerweile bin ich 36 Jahre verheiratet.
Und gehören damit statistisch zu einer Mehrheit, die ein Leben lang zusammenbleibt.
Das macht mich stolz. Es ist ein Glück, meinen Mann Morten an der Seite zu haben. Gerade in meinem Beruf ist eine stabile Beziehung unabdingbar. Wir sind ein eingespieltes Team. Zu Hause muss ich nicht – wie in der Politik – weiter diskutieren oder gar streiten.
In Ihrem Video zur Fussball-EM der Frauen, das in den sozialen Medien viral gegangen ist, schwärmen Sie von Ihrer Heimat. Was nervt Sie an unserem Land?
Nicht mehr viel. Als Jugendliche war das anders. Da stand ich politisch eher links. Ich fand die Schweiz altmodisch und langweilig.
Und heute?
Ich bin ein Fan der direkten Demokratie. Das Volk kann mitbestimmen, und die Politik muss sich zusammenraufen. Dieses System sorgt für Stabilität. Aber wir haben auch negative Eigenschaften.
Woran denken Sie?
An den Neid etwa. Viele Schweizerinnen und Schweizer haben Mühe, die Leistung anderer anzuerkennen. Das zeigt sich im Sport, in der Kultur oder auch in der Politik. Statt von anderen Menschen zu lernen, werden diese lieber kritisiert.
Am 1. August sind Sie auf dem Rütli zu Gast. Werden Sie dem Volk ins Gewissen reden?
Das liegt mir fern. Aber ich möchte an diesem historischen Ort an jene Eigenschaft erinnern, die unser Land von jeher stark macht: den Zusammenhalt. Das ist ein Grundgedanke der Eidgenossenschaft. Wir stehen uns bei, unterstützen uns, sind solidarisch. Wie das gehen kann, hat sich nach dem Felssturz in Blatten eindrücklich gezeigt.
Inwiefern?
Ich habe die Zerstörung mit eigenen Augen gesehen. Die Bewohnerinnen und Bewohner von Blatten haben alles verloren – nicht nur ihr Hab und Gut, sondern auch persönliche Erinnerungsstücke wie die Bilder ihrer Kinder oder jene von der Hochzeit. Aber sie wurden nicht alleingelassen. Ihre Nachbarn im Tal haben sie bei sich zu Hause aufgenommen. Dieser Zusammenhalt hat mich tief bewegt. Leider geht der Trend in unserer Gesellschaft in eine andere Richtung.
Werden wir egoistischer?
Ja, leider. Viele schauen nur für sich selbst. Sie wägen ab, was ihnen etwas bringt, und lassen alles andere bleiben. Das ist nicht im Sinne des Ganzen.
Seit mehr als drei Jahren herrscht Krieg in Europa und jetzt auch im Nahen Osten. Braucht es den nationalen Zusammenhalt, um diese unsicheren Zeiten zu überstehen?
Davon bin ich überzeugt. Wir erleben gerade eine neue Normalität. Die Zeit des Friedens, die wir seit dem Fall der Berliner Mauer bis 2022 hatten, war historisch betrachtet eher eine Ausnahme als die Regel. Im 20. Jahrhundert erschütterten zwei Weltkriege den Globus, es gab Terror in Deutschland, Krieg im Nahen Osten. Das haben wir vergessen oder verdrängt.
Waren wir in der sicheren Schweiz zu naiv?
Wir haben die Lage verklärt. Die Folgen sind fatal. Heute ist unsere Armee nicht mehr verteidigungsfähig. Diese Fähigkeit müssen wir wiederherstellen. Wir haben die Friedensdividende eingezogen. Als Finanzministerin stelle ich fest, dass man in den letzten Jahrzehnten beim Militär stetig gespart hat. Künftig werden wir die Ausgaben schrittweise von heute sechs bis auf zehn Milliarden im Jahr 2032 erhöhen. Dieser Ausbau ist nötig.
Zurzeit geben politisch vor allem die Mehrkosten bei der Beschaffung des neuen Kampfjets F-35 zu reden. Was sagen Sie zum Debakel?
Nur so viel: Wir lassen das Geschäft nicht fallen. Der Kauf des Jets ist bestätigt, unsere Sicherheit in der Luft hängt davon ab. In Bezug auf die Mehrkosten ist das letzte Wort aber noch nicht gesprochen. Wir versuchen, mit den Amerikanern eine Lösung zu finden.
Müssten wir als kleines Land in der Sicherheitspolitik in Zukunft nicht stärker international zusammenarbeiten, statt allein zu marschieren?
Bei der Beschaffung von Rüstungsgütern ist das von Vorteil. Im Übrigen findet eine Kooperation mit der Nato und mit europäischen Staaten längst statt. Solange die Neutralität nicht tangiert wird, ist das legitim. Ob die Zusammenarbeit künftig ausgeweitet wird, darüber möchte ich nicht spekulieren. Das müssten der Bundesrat, das Parlament und allenfalls das Volk entscheiden.
Aufrüsten ist das eine, Frieden fördern das andere. Hat die Schweiz ihre Rolle als Friedensstifterin in der sich verändernden Welt verloren?
Im Gegenteil. Unser Land ist zwar keine Grossmacht und kann den Lauf der Welt nicht beeinflussen. Aber als neutraler Staat sind unsere Guten Dienste gefragt. Wir vermitteln im Nahen Osten. Wir haben in Genf eine Plattform für Gespräche zwischen den USA und China geboten. Und wir wären bereit, Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine zu ermöglichen. Diese Pläne unterstützt auch der französische Präsident Emmanuel Macron. Mit ihm habe ich Anfang Juli darüber gesprochen.
Sie hatten auch einen direkten Draht zu dem Mann, der die Welt in Atem hält: US-Präsident Donald Trump. Im April telefonierten Sie wegen des Zollstreits mit ihm. Kamen Sie zu Wort?
Auf jeden Fall. Präsident Trump war respektvoll und interessiert. Wir sprachen nicht nur über die Zölle. Er wollte wissen, wie wir unsere Migrationspolitik gestalten, wie wir Ausländerinnen und Ausländer integrieren. Er hat mir zugehört.
Nach dem Anruf wurden Sie weltweit als Trump-Dompteurin gefeiert. Zu Recht?
Ich habe dem amerikanischen Präsidenten nur unsere Haltung klargemacht. Ich habe ihm erklärt, Zölle von 31 Prozent seien absolut unangemessen. Stattdessen schlug ich vor, gemeinsam eine Lösung zu suchen und bis dahin die Zölle bei 10 Prozent zu belassen. Das hat er am selben Tag getan. Wieweit ich das mit beeinflusst habe, bleibe dahingestellt.
Als Bundespräsidentin sind Sie nicht nur mit den mächtigsten Leuten der Welt in Kontakt. Sie sind stets unter Druck und viel unter Beschuss. Wie oft kommen Sie an Ihre Grenzen?
Auch ich bin manchmal müde. Dann fühle ich mich vereinnahmt und bin gerne allein. In solchen Momenten frage ich mich, warum ich den Aufwand auf mich nehme. Aber so eine Phase dauert bei mir höchstens ein paar Stunden.
Ihr Mann führt ein ruhigeres Leben und ist frühpensioniert. Möchten Sie manchmal mit ihm tauschen?
Im Moment passt das für uns beide wunderbar. Morten nimmt mir im Alltag viele kleine Dinge ab. Er bringt Kleider in die Reinigung, kauft ein. Er räumt auf, erledigt Büroarbeiten.
Ihr Mann hat eine schwierige Zeit hinter sich. Nach einer Herzoperation litt er unter Panikattacken und psychischen Problemen. Wie war das für Sie?
Man fühlt sich hilflos. Morten, sonst der ruhende Pol, war nicht wiederzuerkennen. Er hatte Angst. Als er sich dem Eingriff am Herzen unterziehen musste, habe ich mir manchmal überlegt, wie es wäre, wenn er nicht mehr da wäre. Ich fragte mich, ob ich das Leben ohne ihn meistern könnte.
Haderten Sie zuweilen mit Ihrem Amt?
Auch, ja. Als Bundesrätin muss ich für alle da sein. Doch in jenen schwierigen Momenten brauchte mich einer ganz besonders: mein Partner.
Was taten Sie?
Ich schaufelte mir immer wieder ein paar Stunden frei. Dann war ich zu Hause und für Morten da. Ich ermunterte ihn, seine Atemübungen zu machen, und beruhigte ihn, wenn die Panikattacken kamen. Nach und nach wurden sie weniger, irgendwann gingen sie vorüber.
Wie hat Sie diese Zeit verändert?
Nicht stark. Denn ich hatte schon immer ein realistisches Verhältnis zum Leben. Mein Mann und ich sprachen schon früher oft über den Tod, weil dieser für ihn als Rechtsmediziner stets präsent war. Doch wenn einen das Thema persönlich betrifft, ist das viel einschneidender.
Wie gehen Sie mit dieser Erfahrung um?
Ich bin mir bewusster, dass uns alles auf Zeit gegeben ist. Dass ich nichts als selbstverständlich erachten darf. Deshalb versuche ich, mich besser abzugrenzen, mir auch einmal Freiräume zu gönnen.
Was tun Sie dann?
Ich lese ein Buch, schaue einen Film. Ich spaziere im Wald. Und ich gehe ins Boxtraining.
Fühlen Sie sich dort wie in der Politik?
Das könnte man meinen. Ich teile aus, stecke ein. Ich schütze mich mit einer guten Deckung, lanciere einen Angriff. Aber ganz ehrlich: Beim Boxen ist die Politik weit weg.
Weshalb?
Ich darf keine Sekunde an etwas anderes denken, sonst falle ich aus dem Takt. Ich bin auf das Hier und Jetzt konzentriert.
Wo kommen Sie zur Ruhe?
Zu Hause in Wil. Dort gehe ich am Wochenende einkaufen. Ich koche für mich, meinen Mann und meinen ältesten Bruder. Und ich treffe Freundinnen und Freunde.
Was geben Ihnen solche Momente?
Ein Gefühl von Alltag. Und sie führen mir vor Augen, was im Leben zählt. Mein Amt habe ich auf Zeit. Aber meine Beziehungen, die bleiben.
Consigliera federale Karin Keller-Sutter

Anno presidenziale 2025
Karin Keller-Sutter sarà la presidente della Confederazione nel 2025.

Biografia
La consigliera federale Karin Keller-Sutter è a capo del Dipartimento federale delle finanze da gennaio 2023.

Foto autografata
Ordinare una cartolina autografata dalla Presidente della Confederazione svizzera.

Interviste e contributi
Selezione di interviste della Presidente della Confederazione Karin Keller-Sutter.

Discorsi
I discorsi della presidente della Confederazione Karin Keller-Sutter in versione integrale.