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Interviews, vidéos et articles invitésPublié le 7 octobre 2024

«Generell scheint mir die Schweiz schon sehr verbürokratisiert»

Standpunkt der Wirtschaft (Patrik Herr) - Mit Karin Keller-Sutter steht eine liberale Politikerin an der Spitze des Finanzdepartementes. Was denkt Sie über das un­gebremste Staatswachstum? Und wie steht die Schweiz da bezüglich der wachsenden globalen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Die Speakerin am diesjährigen Tag der Wirtschaft über Finanzpolitik und warum viele Politiker gerne nach dem Staat rufen.

Standpunkt: Frau Bundesrätin Karin Keller-Sutter, Sie sind seit 1992 Jahren Politikerin und seit 2018 Bundesrätin. Wie hat sich die Schweiz in Ihrer Wahrneh­mung in dieser Zeit verändert und wo verhalten sich die Bür­gerinnen und Bürger anders?

Karin Keller-Sutter: Die Anspruchs­haltung an den Staat ist in den letz­ten Jahren gestiegen. Während man früher noch zuerst versuchte, die Probleme selber zu lösen, wird heute fast schon reflexartig nach staatlicher Unterstützung und Re­gulierung gerufen. Das trifft übri­gens auch auf Teile der Wirtschaft zu. Es ist eine Vollkasko-Mentalität entstanden, die alle Risiken auf den Staat abwälzen will Die Corona-Pandemie hatte sicher auch einen Einfluss auf diese Entwicklung.

Es ist im Moment eine unruhige Zeit: Liberale Gesellschaften kommen unter Druck und es wird vielenorts mehr Protektio­nismus gefordert. Wie beurteilen Sie diese Tendenz?

Protektionismus ist die eine Ent­wicklung, aber es gibt auch noch eine andere: Weltweit – ich denke da unter anderem an die USA, aber auch an die EU – beobachten wir, dass der Steuerwettbewerb durch einen Subventionswettbewerb ab­gelöst wird. Das ist eine besorgnis­erregende Tendenz, denn sie treibt die Kosten für die Staaten in die Höhe und führt dazu, dass entwe­der die Verschuldung steigt oder mehr Steuern eingetrieben werden müssen. Beides schafft keinen Wohlstand. Im Gegenteil: Die stei­gende globale Staatsverschuldung ist ein eigentliches Pulverfass, auf dem wir sitzen. Das besorgt mich sehr.

GESUNDE FINANZEN UND NIEDRIGE SCHULDEN SIND DIE BESTEKRISENVERSICHERUNG.
Bundesrätin Karin Keller-Sutter

Wie stellen Sie sicher, dass die Schweiz in einer Zeit globaler wirtschaftlicher Unsicherheit finanziell stabil bleibt?

Wir müssen schauen, dass der Bundeshaushalt auch langfristig ausgeglichen ist. Das ist das We­sentliche. Denn gesunde Finanzen und niedrige Schulden sind das beste Mittel zur Bewahrung der Stabilität und die beste Krisenver­sicherung zugleich. Für ein Land mit eigener Währung wie die Schweiz ist das besonders wichtig.

Welches sind die aktuell gröss­ten Herausforderungen, denen Sie als Bundesrätin zurzeit gegenüberstehen?

Der Bund hat ein Ausgabenprob­lem und läuft deshalb Gefahr, strukturelle Defizite zu schreiben. Unser Ziel muss es sein, diese Si­tuation zu bereinigen und wieder finanzpolitischen Handlungsspiel­raum zu erlangen. Das ist nicht einfach, denn jede staatliche Aus­gabe hat ihre Lobby. Diese Korrek­turen werden also nicht schmerz­frei sein.

Was sind Ihre langfristigen Ziele als Finanzministerin?

Ich bin eine Verfechterin eines star­ken Staates. Das ist dann der Fall, wenn der Staat seine Aufgaben wahrnehmen kann und es finan­ziellen Gestaltungsspielraum für neue, zukunftsgerichtete Projekte gibt. Im Moment sind wir nicht an diesem Punkt.

Wie schaffen Sie es, die teils widerstreitenden Interessen von Wirtschaftsvertretern, Bürgern und internationalen Partnern unter einen Hut zu bringen?

Daran sind viele beteiligt und die Kompromisssuche ist entsprechend komplex geworden. Aber die Schweiz hat im Grundsatz immer noch eine Kultur des Kompromis­ses und des Dialogs. Wesentlich ist, dass man sich bei der Suche nach Lösungen auf Augenhöhe begegnet und ehrlich bleibt. Das setzt natür­lich voraus, auch einmal Konzes­sionen zu machen und den Kom­promiss dann mitzutragen. Dabei muss man akzeptieren, dass man sich nicht auf der ganzen Linie durchsetzen kann.

Können Sie ausführen, in wel­chen Bereichen es einen starken Staat braucht und in welchen Bereichen die Schweiz eher zu viel Staat hat?

Es gibt genuine Staatsaufgaben: Si­cherheit, Justiz, Bildung, Infra­strukturen wie Strassen etwa oder soziale Grundsicherung. Hier ist der Staat über alles gesehen effizi­enter als die Privatwirtschaft und er ist auch nicht ersetzbar. Überall aber, wo er leicht ersetzt werden kann, da muss man ihn heraushal­ten oder zumindest verschlanken. Zumeist ist der Staat in diesen Be­reichen auch sehr ineffizient. Und generell scheint mir die Schweiz schon sehr verbürokratisiert. Hier ist jede Erleichterung willkommen und notwendig.

Der Staat wächst in vielen Berei­chen, sei es durch seine steigen­den Ausgaben, immer mehr Personal oder zunehmende Regu­lierung. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung aus Sicht einer liberalen Politikerin?

Mit Sorge. Allerdings muss man schon auch Ross und Reiter nennen: Das Staatswachstum ist – wenn man einmal von den Effekten der Demo­graphie absieht – kein Naturphäno­men

DAS STAATSWACHSTUM IST KEIN NATURPHÄNO­MEN ODER BÖSARTIGE MANIE DER VERWALTUNG.
Bundesrätin Karin Keller-Sutter

und auch nicht einfach eine bösartige Manie der Verwaltung. Es ist eine Folge der Anspruchshaltung, die ich beschrieben habe. Die gibt es auch im Parlament. Die gleichen Leute, die mehr staatliche Leistung bestellen, klagen dann auch oft über das damit einhergehende Staats­wachstum. Das ist nicht sonderlich konsistent.

Wie soll sichergestellt werden, dass das Wachstum des Staatsap­parats nicht die unternehmerische Freiheit und die Innovationskraft der Schweizer KMU einschränkt?

Schon Montesquieu wusste: «Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.» Wenn man sich – insbesondere im Parlament – etwas an diese Maxime erinnern würde, dann wäre schon viel gewon­nen. Allerdings erlebe ich eher das Gegenteil.

Die Digitalisierung könnte eine Chance sein, die Effizienz des Staates zu steigern und gleichzei­tig die Last für KMU zu reduzie­ren. Welche Massnahmen fordern und fördern Sie, um diesen Wan­del zu unterstützen?

Ich leite ja den Digitalisierungsaus­schuss des Bundesrats und sehe da­her aus der Nähe, dass die Digitali­sierung ein dauernder und sehr komplexer Prozess ist. Es gibt hier keine einzelne Massnahme, die den grossen Durchbruch bringt, sondern es sind viele kleine, die ineinander­greifen müssen. Das trifft auf unse­ren Staat mit seinen verschiedenen Ebenen vom Bund über die Kantone bis zu den Gemeinden in besonderer Weise zu. Gut ist alles, was den Bür­gerinnen und Bürgern und der Wirt­schaft nützt. In meinem eigenen De­partement denke ich etwa an die Digitalisierung der Verzollung, um nur ein Beispiel zu nennen. Damit gewinnt man zwar keine Preise – aber man entlastet die Wirtschaft und damit auch die Konsumentin­nen und Konsumenten doch erheb­lich.

Wo sehen Sie die Schweiz und die Schweizer Wirtschaft in 5 Jahren?

Wenn es uns gelingt, unsere Haus­aufgaben – insbesondere im finan­ziellen Bereich – zu machen, dann bin ich recht optimistisch. Zwar ha­ben die vergangenen Jahre gezeigt, dass es leider auch zu externen Schocks kommen kann. Unsere fi­nanzpolitische Disziplin hat uns aber geholfen, diese verhältnismäs­sig gut zu absorbieren und rasch wieder aus dem Tal zu kommen. Wichtig scheint mir aber auch dies: Der Zustand der Wirtschaft hängt nicht nur vom Staat ab, sondern auch und vor allem Engagement und der Innovationskraft der Unterneh­men. Man darf also nicht nur nach Bern schielen – die Lösung liegt oft im eigenen Betrieb.