«Generell scheint mir die Schweiz schon sehr verbürokratisiert»
Standpunkt der Wirtschaft (Patrik Herr) - Mit Karin Keller-Sutter steht eine liberale Politikerin an der Spitze des Finanzdepartementes. Was denkt Sie über das ungebremste Staatswachstum? Und wie steht die Schweiz da bezüglich der wachsenden globalen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Die Speakerin am diesjährigen Tag der Wirtschaft über Finanzpolitik und warum viele Politiker gerne nach dem Staat rufen.
Standpunkt: Frau Bundesrätin Karin Keller-Sutter, Sie sind seit 1992 Jahren Politikerin und seit 2018 Bundesrätin. Wie hat sich die Schweiz in Ihrer Wahrnehmung in dieser Zeit verändert und wo verhalten sich die Bürgerinnen und Bürger anders?
Karin Keller-Sutter: Die Anspruchshaltung an den Staat ist in den letzten Jahren gestiegen. Während man früher noch zuerst versuchte, die Probleme selber zu lösen, wird heute fast schon reflexartig nach staatlicher Unterstützung und Regulierung gerufen. Das trifft übrigens auch auf Teile der Wirtschaft zu. Es ist eine Vollkasko-Mentalität entstanden, die alle Risiken auf den Staat abwälzen will Die Corona-Pandemie hatte sicher auch einen Einfluss auf diese Entwicklung.
Es ist im Moment eine unruhige Zeit: Liberale Gesellschaften kommen unter Druck und es wird vielenorts mehr Protektionismus gefordert. Wie beurteilen Sie diese Tendenz?
Protektionismus ist die eine Entwicklung, aber es gibt auch noch eine andere: Weltweit – ich denke da unter anderem an die USA, aber auch an die EU – beobachten wir, dass der Steuerwettbewerb durch einen Subventionswettbewerb abgelöst wird. Das ist eine besorgniserregende Tendenz, denn sie treibt die Kosten für die Staaten in die Höhe und führt dazu, dass entweder die Verschuldung steigt oder mehr Steuern eingetrieben werden müssen. Beides schafft keinen Wohlstand. Im Gegenteil: Die steigende globale Staatsverschuldung ist ein eigentliches Pulverfass, auf dem wir sitzen. Das besorgt mich sehr.
GESUNDE FINANZEN UND NIEDRIGE SCHULDEN SIND DIE BESTEKRISENVERSICHERUNG.
Wie stellen Sie sicher, dass die Schweiz in einer Zeit globaler wirtschaftlicher Unsicherheit finanziell stabil bleibt?
Wir müssen schauen, dass der Bundeshaushalt auch langfristig ausgeglichen ist. Das ist das Wesentliche. Denn gesunde Finanzen und niedrige Schulden sind das beste Mittel zur Bewahrung der Stabilität und die beste Krisenversicherung zugleich. Für ein Land mit eigener Währung wie die Schweiz ist das besonders wichtig.
Welches sind die aktuell grössten Herausforderungen, denen Sie als Bundesrätin zurzeit gegenüberstehen?
Der Bund hat ein Ausgabenproblem und läuft deshalb Gefahr, strukturelle Defizite zu schreiben. Unser Ziel muss es sein, diese Situation zu bereinigen und wieder finanzpolitischen Handlungsspielraum zu erlangen. Das ist nicht einfach, denn jede staatliche Ausgabe hat ihre Lobby. Diese Korrekturen werden also nicht schmerzfrei sein.
Was sind Ihre langfristigen Ziele als Finanzministerin?
Ich bin eine Verfechterin eines starken Staates. Das ist dann der Fall, wenn der Staat seine Aufgaben wahrnehmen kann und es finanziellen Gestaltungsspielraum für neue, zukunftsgerichtete Projekte gibt. Im Moment sind wir nicht an diesem Punkt.
Wie schaffen Sie es, die teils widerstreitenden Interessen von Wirtschaftsvertretern, Bürgern und internationalen Partnern unter einen Hut zu bringen?
Daran sind viele beteiligt und die Kompromisssuche ist entsprechend komplex geworden. Aber die Schweiz hat im Grundsatz immer noch eine Kultur des Kompromisses und des Dialogs. Wesentlich ist, dass man sich bei der Suche nach Lösungen auf Augenhöhe begegnet und ehrlich bleibt. Das setzt natürlich voraus, auch einmal Konzessionen zu machen und den Kompromiss dann mitzutragen. Dabei muss man akzeptieren, dass man sich nicht auf der ganzen Linie durchsetzen kann.
Können Sie ausführen, in welchen Bereichen es einen starken Staat braucht und in welchen Bereichen die Schweiz eher zu viel Staat hat?
Es gibt genuine Staatsaufgaben: Sicherheit, Justiz, Bildung, Infrastrukturen wie Strassen etwa oder soziale Grundsicherung. Hier ist der Staat über alles gesehen effizienter als die Privatwirtschaft und er ist auch nicht ersetzbar. Überall aber, wo er leicht ersetzt werden kann, da muss man ihn heraushalten oder zumindest verschlanken. Zumeist ist der Staat in diesen Bereichen auch sehr ineffizient. Und generell scheint mir die Schweiz schon sehr verbürokratisiert. Hier ist jede Erleichterung willkommen und notwendig.
Der Staat wächst in vielen Bereichen, sei es durch seine steigenden Ausgaben, immer mehr Personal oder zunehmende Regulierung. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung aus Sicht einer liberalen Politikerin?
Mit Sorge. Allerdings muss man schon auch Ross und Reiter nennen: Das Staatswachstum ist – wenn man einmal von den Effekten der Demographie absieht – kein Naturphänomen
DAS STAATSWACHSTUM IST KEIN NATURPHÄNOMEN ODER BÖSARTIGE MANIE DER VERWALTUNG.
und auch nicht einfach eine bösartige Manie der Verwaltung. Es ist eine Folge der Anspruchshaltung, die ich beschrieben habe. Die gibt es auch im Parlament. Die gleichen Leute, die mehr staatliche Leistung bestellen, klagen dann auch oft über das damit einhergehende Staatswachstum. Das ist nicht sonderlich konsistent.
Wie soll sichergestellt werden, dass das Wachstum des Staatsapparats nicht die unternehmerische Freiheit und die Innovationskraft der Schweizer KMU einschränkt?
Schon Montesquieu wusste: «Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.» Wenn man sich – insbesondere im Parlament – etwas an diese Maxime erinnern würde, dann wäre schon viel gewonnen. Allerdings erlebe ich eher das Gegenteil.
Die Digitalisierung könnte eine Chance sein, die Effizienz des Staates zu steigern und gleichzeitig die Last für KMU zu reduzieren. Welche Massnahmen fordern und fördern Sie, um diesen Wandel zu unterstützen?
Ich leite ja den Digitalisierungsausschuss des Bundesrats und sehe daher aus der Nähe, dass die Digitalisierung ein dauernder und sehr komplexer Prozess ist. Es gibt hier keine einzelne Massnahme, die den grossen Durchbruch bringt, sondern es sind viele kleine, die ineinandergreifen müssen. Das trifft auf unseren Staat mit seinen verschiedenen Ebenen vom Bund über die Kantone bis zu den Gemeinden in besonderer Weise zu. Gut ist alles, was den Bürgerinnen und Bürgern und der Wirtschaft nützt. In meinem eigenen Departement denke ich etwa an die Digitalisierung der Verzollung, um nur ein Beispiel zu nennen. Damit gewinnt man zwar keine Preise – aber man entlastet die Wirtschaft und damit auch die Konsumentinnen und Konsumenten doch erheblich.
Wo sehen Sie die Schweiz und die Schweizer Wirtschaft in 5 Jahren?
Wenn es uns gelingt, unsere Hausaufgaben – insbesondere im finanziellen Bereich – zu machen, dann bin ich recht optimistisch. Zwar haben die vergangenen Jahre gezeigt, dass es leider auch zu externen Schocks kommen kann. Unsere finanzpolitische Disziplin hat uns aber geholfen, diese verhältnismässig gut zu absorbieren und rasch wieder aus dem Tal zu kommen. Wichtig scheint mir aber auch dies: Der Zustand der Wirtschaft hängt nicht nur vom Staat ab, sondern auch und vor allem Engagement und der Innovationskraft der Unternehmen. Man darf also nicht nur nach Bern schielen – die Lösung liegt oft im eigenen Betrieb.