Das Fundament des mutigen Handelns
Salve - Abt Urban Federer und Bundesrätin Karin Keller-Sutter gehen im gemeinsamen Interview dem Mut auf die Spur: Worin gründet mutiges Handeln eigentlich? Warum sind Wertehaltungen so wichtig – und darf es auch mal eine Prise Übermut sein?
Die eigenen Handlungen müssen der Gemeinschaft gegenüber verantwortungsbewusst sein.

Benedikt von Nursia schuf mit der Benediktsregel eine Anleitung zum Leben in klösterlicher Gemeinschaft. Bundesrätin Karin Keller-Sutter, Sie selbst lesen regelmässig in dem rund 1500 Jahre alten Text. Warum?
Karin Keller-Sutter: Für mich beinhaltet die Benediktsregel viel bereichernde Spiritualität. Im Alltag geht das Wesentliche gern vergessen: Das Leben ist unberechenbar, alles ist endlich und verändert sich stetig. Diese und viele weitere zentrale Lebensthemen werden angesprochen – und angeleitet. Es ist wichtig, sich immer wieder zu vergegenwärtigen, was wirklich zählt. Die Benediktsregel wird oft missverstanden. «Ora et labora!» heisst es in ihr, also «bete und arbeite!». Dabei muss man verstehen: Die Arbeit ist das Gebet, denn sie ist sinnstiftend und erfüllend.
Abt Urban: In der Benediktsregel ist die Wertschätzung der Arbeit als ein Weg der Hingabe zu Gott und der Gemeinschaft ein zentrales Thema: Sie ist ein Ratgeber ebenso für das alltägliche, weltliche Leben wie für klösterliche Gemeinschaften. Die angesprochenen Textstellen gehen auf die Haltung und den Geist, mit dem die Arbeit verrichtet werden soll, ein.
Karin Keller-Sutter: Die innere Haltung ist für mich ein wichtiger Aspekt des Glaubens. Ich bin im katholischen Glauben aufgewachsen. Steh zu dem, wovon du überzeugt bist, auch wenn es vielleicht unpopulär ist – diese innere Werthaltung lernte ich von Kindesbeinen an. Mein Glaube ist privat, gleichzeitig hilft er mir, auch im Amt zu meinen Überzeugungen zu stehen.
Abt Urban: Amt und Person sind meiner Meinung nach zu unterscheiden – und gleichzeitig sind es eben solche persönlichen Überzeugungen, die einen gerade bei schwierigen Aufgaben unterstützen können. Das ist uns übrigens auch in der Stiftsschule wichtig: Um ehrlich zu sein, gehe ich nicht davon aus, dass die Jugendlichen den Schulstoff stets akribisch lernen – was sie aber unbedingt lernen sollen, ist sich selbst zu sein und zu sich zu stehen. Hier hilft der Glaube sehr: Denn in ihm liegt ein Gefühl, getragen zu sein, ein stärkendes Grundgehaltensein.
Karin Keller-Sutter: Der Glaube befähigt, das erlebe ich auch so. Apropos Schule: Als Kind betete ich vor Prüfungen manchmal für gute Noten – bis ich zu der Erkenntnis kam, dass es beim Gebet um etwas anderes geht. Es geht um Befähigung, um die Kraft und den Mut, Herausforderungen anzunehmen. Und es geht auch darum, seine innere Haltung anzunehmen.
Abt Urban: Ja, das Gebet spendet Mut und Kraft – und es kann ein Dialog sein. «Höre!»: Mit dieser Aufforderung beginnt der Prolog der Benediktsregel, und: «Neige das Ohr deines Herzens.» Mit offenem Herzen hinzuhören und auch aufeinander zu hören: Das stärkt und macht mutig für die Zukunft. Wer etwa eine führende Rolle innehat, muss Verantwortung übernehmen und vorangehen – das ist nicht zu vermeiden. Vor jeder Entscheidung steht für mich der Austausch und das Gebet.
Karin Keller-Sutter: Für mich ist klar: Ob im Amt oder nicht, man muss hinstehen und entscheiden – und diese Entscheidungen dann tragen. Eine innere Werthaltung, oder eben dieses Grundgehaltensein, hilft dabei und stärkt den eigenen Mut. Als verantwortungsvolle Führungsperson
muss man für sein Team unbedingt ein Klima mit offenen Gesprächen schaffen. Man braucht gute, und vor allem kritische und mutige Mitarbeitende, denn dadurch wird das ganze Team besser und erfolgreicher.
Abt Urban: Das erlebe ich auch so. Und: Nachdem etwas entschieden worden ist, muss man auch vertrauen und loslassen können. Zuweilen erfordert das auch Mut. Was mir vor allem wichtig ist: Im Dialog kann ich den Mut zur Tatkraft fördern.
Das Lesen der Benediktsregel kann die innere Werthaltung und den Fokus auf das Wesentliche stärken. Diese sind wichtig, um Verantwortung zu übernehmen und Mut zu fördern. Auch die Stiftsschule Einsiedeln ist von der benediktinischen Tradition geprägt. Dort wurden sechs Grundhaltungen definiert, die besonders vermittelt werden sollen: Verantwortung, Disziplin, Liebe, Neugier, Wahrhaftigkeit und mutiges Handeln.
Karin Keller-Sutter, wie würden Sie Jugendlichen erklären, was mutiges Handeln eigentlich ist?
Karin Keller-Sutter: Mutiges Handeln bedeutet für mich, dass man sich eine Meinung bildet und diese vertritt – nicht stur, aber beherzt. Auf der inneren Haltung und Wertvorstellung kann man bauen. Man muss eine eigene Persönlichkeit entwickeln, die sich mit der Zeit festigen kann.
Abt Urban: Die Verunsicherung ist zuweilen recht gross bei Jugendlichen: Mir ist es wichtig, dass sie lernen, sich selbst zu sein. Das angesprochene Grundgehaltensein – im Tiefsten angenommen zu sein – hilft, einen Glauben auch in die Zukunft zu entwickeln und zu festigen. Und mit der Zeit seinen Platz zu finden, der auch zu einem passt.
Karin Keller-Sutter: Diesbezüglich spielen Vorbilder eine wichtige Rolle. Man sollte eigene Vorbilder klug wählen und sich nicht von Oberflächlichkeiten blenden lassen. Nicht Äusserlichkeiten, sondern die Wertvorstellungen zählen. Heute sehe ich, wie mutig meine Eltern waren. Mein Vater war selbstständig und führte zusammen mit meiner Mutter ein Restaurant. Es war ihnen wichtiger, selbstbestimmt zu leben, als reich zu werden. Als Jugendliche war mir das nicht so bewusst. Heute schaue ich manchmal in den Spiegel und sehe meine verstorbene Mutter, die ich in den Tod begleitet habe. Es sind die Beziehungen, die bleiben und die uns lehren, was für uns zählt. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an meine Mutter denke.
Jugendliche können mutiges Handeln durch das Entdecken der eigenen Persönlichkeit lernen – wichtig sind dabei die richtigen Vorbilder und die Beziehungen. Karin Keller-Sutter, gerade wenn wir von der Jugend sprechen: Darf man auch mal übermütig sein?
Karin Keller-Sutter: Natürlich, dafür haben wir Katholiken ja die Fasnacht! Da fällt mir auf Anhieb das «Wiler Fasnachtslied» ein: «S’ganz Jahr müemer ordli tue, blased mer drum hüt i d’Schue!» Ausgelassen sein und Neues zu entdecken, ist schön und tut gut. Aus der Leichtigkeit darf aber kein Leichtsinn werden. Die eigenen Handlungen müssen der Gemeinschaft gegenüber verantwortungsbewusst sein. Für mich persönlich ist es natürlich ein wichtiger Unterschied, ob ich als Bundesrätin eine Entscheidung treffe oder als Privatperson.
Abt Urban: Es braucht den Übermut – und es braucht immer auch das Mass. Wenn ich als Abt über die Stränge hauen würde, könnte ich das nicht mit mir selbst vereinbaren. Apropos Mass: Dieses ist auch zwischen Hochmut und Mutlosigkeit, also zwischen einer Über- und Unterschätzung des Selbst, enorm wichtig. Oft ist man auch hier auf ein Gegenüber angewiesen, das einem in Gesprächen hilft, das richtige Mass zu erkennen.
Karin Keller-Sutter: Um Mass halten zu können, braucht es auch Selbstdisziplin: Man muss sich abgrenzen und Nein sagen können – und so zu sich selbst Sorge tragen. Ich begehe jedes Jahr mit meinem Mann die Fastenzeit. Dieser Verzicht ist etwas Stärkendes und gibt mir Energie. Und es ist schön, wenn man danach wieder etwas geniessen darf – oder man merkt, dass es einem gar nicht gefehlt hat!
Bundesrätin Karin Keller-Sutter, Sie haben einen starken Bezug zum Kloster Einsiedeln: Welchen Beitrag leisten die Klöster in Ihren Augen?
Karin Keller-Sutter: Die Klöster sind für viele unsichtbar in unserer heutigen säkularen Welt, auch das Klosterleben blieb und bleibt vielen verborgen. Ich finde, den Bildungsauftrag, den viele Klöster in ihren Schulen umsetzen, sehr wichtig. Ich selbst war in der Schule des Dominikanerinnenklosters St. Katharina in Wil und habe als Jugendliche nicht begriffen, warum ich auf eine katholische Mädchenschule gehen soll. Im Nachhinein wurde mir bewusst, dass ich in dieser traditionellen Bildungseinrichtung sehr viel gelernt habe. Ich finde es auch wichtig, dass die Klöster und ihre Ordensgemeinschaften als Teil der Gesellschaft sichtbar sind und ihre Spiritualität weitergeben.
Abt Urban: Die Klöster sind auch für eine Art Friedensarbeit hier. Frieden – innerlichen Frieden – kann man nicht einfach einfordern. Klöster können Menschen einen Raum bieten, von dem sie etwas mehr Zufriedenheit wieder nach Hause nehmen können. Klöster sind für viele unsichtbar; dennoch wollen wir im Kloster Einsiedeln bewusst für die Menschen da sein.
Conseillère fédérale Karin Keller-Sutter

Année présidentielle 2025
Karin Keller-Sutter sera présidente de la Confédération en 2025.

Biographie
La conseillère fédérale Karin Keller-Sutter est à la tête du Département fédéral des finances DFF depuis janvier 2023.

Photo dédicacée
Commander ici une carte dédicacée par la présidente de la Confédération suisse.

Interviews et contributions
Les interviews de la présidente de la Confédération, Karin Keller-Sutter.

Discours
Discours de la présidente de la Confédération Karin Keller-Sutter dans leur intégralité.