Referat zum Thema "Ist Finanzpolitik heute noch Ordnungspolitik?"

Referat von Bundesrätin Karin Keller-Sutter für die Veranstaltung der Uni Luzern

Hinweis: Es gilt das gesprochene Wort

Minister Lindner
Professor Schaltegger
Liebe Studierende
Geschätzte Damen und Herren

Ich muss Ihnen zu Beginn etwas gestehen. Ich habe mich für einen kurzen Moment etwas schwer getan bei der Vorbereitung dieses Referats. Wir wollen darüber sprechen, welche Bedeutung die Ordnungspolitik für die Finanzpolitik heute noch hat.

Das Thema liegt mir als Finanzministerin – und als Liberale – natürlich besonders am Herzen. Man könnte sich aber auch fragen, ob wir damit den richtigen Schwerpunkt setzen angesichts der Entwicklungen in der Welt.

Wir sehen weiterhin kein Ende des Kriegs, den ein totalitäres russisches Regime gegen die Ukraine führt. In Afghanistan herrschen die Taliban. Ich denke aber auch an Chinas Machtansprüche im Südchinesischen Meer, an die Spannungen auf dem Balkan –
und natürlich an die Lage im Nahen Osten.

Am 7. Oktober hat die Terrororganisation Hamas in bestialischer Weise Hunderte israelische Zivilisten ermordet und über 200 Menschen als Geiseln genommen. Der islamistische Terror kam mit voller Wucht zurück in die westliche Welt. Es gilt, ihn mit allen Mitteln zu bekämpfen.

Die freiheitlich-demokratische Welt ist unter Druck. Wer wagt heute eine Prognose, ob sie sich morgen gegen die autoritären und totalitären Tendenzen wird behaupten und durchsetzen können. Was können wir tun?

Meine Damen und Herren

Ich möchte vor diesem Hintergrund mein Referat mit einem Zitat beginnen.

“The central values of civilization are in danger. Over large stretches of the Earth’s surface the essential conditions of human dignity and freedom have already disappeared. In others they are under constant menace from the development of current tendencies of policy. The position of the individual and the voluntary group are progressively undermined by extensions of arbitrary power. Even that most precious possession of Western Man, freedom of thought and expression, is threatened by the spread of creeds which, claiming the privilege of tolerance when in the position of a minority, seek only to establish a position of power in which they can suppress and obliterate all views but their own.”

Diese Worte stammen aus einer Art Charta der «Mont Pelerin Society». Sie datieren vom 8. April 1947.

Verfasst wurde die Charta von einer Gruppe liberal denkender Intellektueller rund um den österreichisch-britischen Ökonomen Friedrich August von Hayek. Die Gruppe hatte sich nach dem Ort ihrer ersten Zusammenkunft benannt, dem Mont Pèlerin oberhalb von Vevey am Genfersee. Und ihre Worte haben auch heute wieder eine erschreckende Aktualität.

Auch heute fehlt es in grossen Teilen der Welt an den grundlegenden Voraussetzungen für menschliche Würde und Freiheit. Und in anderen Teilen der Welt sind sie erneut unter Druck. Die «Mont Pelerin Society» entstand damals, nach dem 2. Weltkrieg, aus der Sorge um liberale Ideale. Ihre Mitglieder wollten im intellektuellen Austausch zum Erhalt und zur Verbesserung der freien Gesellschaft beitragen.

Die Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Werte und der Rechtsstaatlichkeit und die Verteidigung der sozialen Marktwirtschaft als Ordnungsprinzip sind auch heute wieder nötig. Und dazu gehört auch die Debatte über die Bedeutung der Ordnungspolitik in der Finanzpolitik.

Ich würde sogar sagen: Sie ist in diesen Zeiten nötiger denn je!

Man sollte die Warnungen des IWF nicht ignorieren: Die Staatsausgaben steigen unaufhörlich. Bis 2030 könnten sie in den Industriestaaten gemäss dem IWF um sechs Billionen – also sechstausend Milliarden – US-Dollar wachsen. Das entspräche sieben Prozent ihrer Wirtschaftsleistung.

Und das in einer Zeit mit rekordhoher Verschuldung vieler Staaten, mit hoher Inflation, erhöhten Zinsen und schwachen Wachstumsaussichten in einer zunehmend krisenanfälligen Welt.

In Frankreich übersteigen die Ausgaben für den Schuldendienst bereits die Ausgaben für die Verteidigung [Schuldendienst gut 3% der Ausgaben, Verteidigung 2,9% der Ausgaben]. In den USA könnten die Zinszahlungen für die Schulden laut dem IWF von rund 8 Prozent der Staatseinnahmen im Jahr 2019 auf 12 Prozent im Jahr 2028 ansteigen.

Mit anderen Worten: Wir sitzen nicht nur geopolitisch, sondern auch finanzpolitisch auf einem Pulverfass. Und die Kombination macht es nicht gemütlicher.

Darum bin ich heute sehr gerne hier. Und ich danke der Uni Luzern herzlich für die Organisation dieses Anlasses, die Wahl des Themas und für die Einladung.

Geschätzte Anwesende

Ein Mitglied der vorhin erwähnten «Mont Pelerin Society» war der deutsche Ökonom Walter Eucken. Die vielen Ökonominnen und Ökonomen hier im Saal kennen sein Werk sicher besser als ich. Eucken war Mitbegründer des Ordoliberalismus, der als ordnungspolitisches Konzept der Idee der Sozialen Marktwirtschaft zum Durchbruch verholfen hatte.

Eucken hat dabei auch den grundlegenden Gedanken der Ordnungspolitik geprägt, wonach der Staat den Rahmen, aber nicht den Prozess gestalten soll. Er soll die Spielregeln vorgeben, aber nicht lenkend in das Wirtschaftsgeschehen eingreifen.

Der frühere freisinnige Bundesrat Pascal Couchepin hat vor über 20 Jahren einmal gesagt, er möge den Begriff «Ordnungspolitik» nicht besonders. Und zwar aus zwei Gründen: Weil dieser Begriff erstens keine Entsprechung in der französischen und italienischen Sprache habe und weil er zweitens mit Vorurteilen belastet sei.

Er sprach darum lieber davon, dass gute Wirtschaftspolitik vorhersehbar sein müsse. Dass sie es den Akteuren im Wirtschaftsleben ermöglichen müsse, in einem bekannten Rahmen zu handeln. Das gilt natürlich gleichermassen für die Finanzpolitik. Womit wir beim heutigen Thema sind.

«Ist Finanzpolitik heute noch Ordnungspolitik?»

Ich beantworte das vorsichtig mal so: Sie sollte es zumindest sein!

Finanzpolitik sollte vorhersehbar sein. Aber auch nachhaltig. Und damit verlässlich. Nur so kann sie die Handlungsfähigkeit des Staates sicherstellen, dessen zentrale Aufgabe und damit eigentliche Raison d’Être es ist, für Sicherheit und Wohlstand seiner Bevölkerung zu sorgen. Das tönt gut in der Theorie.

Wir leben aber in der Realität. Und die Realität ist komplex. Es gibt Zielkonflikte und Widersprüche. Und es braucht darum immer wieder auch Kompromisse.

Ein italienisches Sprichwort besagt:

«Il meglio è il nemico del bene».

«Das Bessere ist der Feind des Guten».

Der Ausspruch wurde dank Voltaire berühmt und später mit dem Pareto-Prinzip formalisiert. Es kann auch nicht alles abschliessend geregelt werden. Mögliche künftige Krisen schon gar nicht.

Und im entscheidenden Moment muss man vielleicht eben auch anders entscheiden, als es im Lehrbuch steht. So ist das Leben. Und dafür braucht es die Politik.

Gute Politik beginnt damit, dass man diese manchmal unbequeme Realität anerkennt. Das bringt mich zurück zur Finanzpolitik. Ich möchte heute nur auf zwei Probleme näher eingehen, denen man sich gerade aus ordnungspolitischer Sicht annehmen muss.

Erstens:

Demokratie ist zwar die beste aller Staatsformen. Aber perfekt ist natürlich auch sie nicht. Das weiss die Neue Politische Ökonomie. Man gibt seinen Wählerinnen und Wählern lieber etwas, als dass man ihnen etwas wegnimmt – umso mehr, wenn man die Last auf die nachfolgenden Generationen abschieben kann. Darum ist auch der Demokratie die Neigung zur zunehmenden Verschuldung inhärent.

Und darum braucht die Finanzpolitik selber Regeln – einen Rahmen, damit sie ihren Beitrag an die Sicherung von Wohlstand und Sicherheit tatsächlich leisten kann. Die Verschuldungsneigung ist allerdings so stark, dass hehre Grundsätze nichts nützen, selbst wenn sie in der Verfassung verankert sind. Das hat die Schweiz zuletzt in den 90er Jahren erfahren, als sich die Schulden fast verdreifachten. Es braucht darum die richtigen Regeln.

Regeln, die griffig sind, die aber auch der Krisenhaftigkeit der Welt gerecht werden und zugleich zur Stabilisierung der Konjunktur beitragen. Sie wissen bestimmt, was jetzt kommt!

Die Schweizer Schuldenbremse, die einer meiner Vorgänger, der freisinnige Finanzminister Kaspar Villiger, eingeführt hat. Sie wurde dieses Jahr 20-jährig. Und sie war in diesen 20 Jahren bereits einigen Stresstests ausgesetzt. Wir können heute sagen: Sie hat sich in jeder Hinsicht bewährt.

Sie sorgt für eine nachhaltige Finanzpolitik und damit für Stabilität. Und sie sichert zugleich die Resilienz und die Handlungsfähigkeit des Staates – gerade auch in Krisen.

Auch Befürchtungen eines Sozialabbaus der damaligen Gegner haben sich nicht bewahrheitet: Die Schweiz blieb sozial und investierte weiterhin in die Zukunft.

Die Ausgaben für die Soziale Wohlfahrt des Bundes haben sich in diesen zwanzig Jahren fast verdoppelt. Es war der Aufgabenbereich, der – zusammen mit Bildung und Forschung – sogar das stärkste Wachstum verzeichnete. Trotzdem steht der Schuldenbremse ein weiterer Stresstest bevor.

Viele Jahre des Wachstums und relativ üppig sprudelnde Einnahmen haben bei der Ausgabendisziplin Spuren hinterlassen. Auch die grosszügige Unterstützung des Staates während der Corona-Pandemie für Gewerbe, KMU, Sport, Kultur – die Liste ist lang – hat zu einer neuen Anspruchshaltung gegenüber dem Staat geführt, auch in Wirtschaftskreisen.

Eine Folge davon sind immer neue Begehrlichkeiten, die nicht gegenfinanziert sind. Und sobald der Verteilkampf um die öffentlichen Finanzen härter wird, steigt natürlich auch die Versuchung, das Korsett der Schuldenbremse wieder zu lockern.

Es wird Sie nicht überraschen, dass ich das keine gute Idee finde. Nicht, weil es mir die Aufgabe als Kassenwartin erschweren würde. Sondern, weil ich erstens überzeugt bin, dass Steuergelder in der Infrastruktur, in der Bildung und in der Sicherheit besser investiert sind als im Schuldendienst. Und weil – zweitens – in Zeiten, in denen wir aufgrund der geopolitischen Lage auch mit geoökonomischen Verwerfungen rechnen müssen, jeder Beitrag an die Verlässlichkeit und an die Stabilität, an die Resilienz und an die Handlungsfähigkeit des Staates unverzichtbar ist.

Die Schuldenbremse leistet diesen Beitrag. Nur ein finanziell gesunder Staat ist ein starker Staat. Schuldenabbau gehört darum zur Krisenprävention.

Ich komme zum zweiten Problem.

In einem föderalen und sich laufend weiterentwickelnden Staatswesen gibt es eine Tendenz zur Aufgabenverflechtung und zur Zentralisierung. Ich überlasse es Professor Schaltegger, das wissenschaftlich zu belegen, ich sage es aus meiner Erfahrung als Regierungsrätin, Ständerätin und Bundesrätin. Dahinter wirken zwei Kräfte.

Einerseits das Parlament, das Aufgaben an sich reisst, die eigentlich in der Zuständigkeit der Kantone liegen. Es lockt das Scheinwerferlicht auf der nationalen Bühne, wenn es um populäre Forderungen wie Prämienverbilligungen oder Beiträge an die Kinderbetreuung geht. Die Knochenarbeit in den Gemeinden und Kantonen ist weniger beliebt.

Andererseits – und leider! – die Kantone selber, die in schwierigen Situationen noch so froh sind, wenn der Bund ihnen ein Problem löst und finanziell beispringt. Corona war ein Paradebeispiel. Damit werden zwei zentrale Ordnungsprinzipien des föderalen Staates unterlaufen: Die Subsidiarität und die sogenannte fiskalische Äquivalenz – im Volksmund besser bekannt als: «Wer zahlt, befiehlt».

Es ist 15 Jahre nach Inkrafttreten der sogenannten NFA – der «Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung» - Zeit, diese Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen zu überprüfen und gemeinsam mit den Kantonen einen Weg zu finden, um der fiskalischen Äquivalenz wieder zu mehr Nachachtung zu verhelfen.

Einfach wird das nicht, aber ich freue mich darauf – und darüber, dass auch die Konferenz der Kantonsregierungen für die rasche Wiederaufnahme dieses Projekts plädiert.


Meine Damen und Herren

Ich könnte jetzt natürlich auch noch über die internationalen Entwicklungen im Bereich des Steuerwettbewerbs sprechen – und über die Gefahr, dass er von einem Subventionswettlauf der Staaten abgelöst wird. Subventionen auf Pump.

Ich glaube, wir müssen nicht darüber spekulieren, was Walter Eucken zu dieser Entwicklung gesagt hätte! Aber unsere Zeit ist begrenzt und ich möchte zum Schluss kommen. Und es soll ein zuversichtlicher Schluss sein.

Ich zitiere dazu zwei Zeitgenossen, die miteinander nichts zu tun haben – und doch fast gleichentags zum gleichen Schluss kamen.

Den Historiker Niall Ferguson – ich glaube, er war kürzlich auf Einladung des IWP in der Schweiz. Ferguson sagte am 10. September in der «SonntagsZeitung» auf die Frage, ob die freie Welt nicht untergehen werde – ich zitiere:

«Der zweite kalte Krieg wird enden wie der erste: Mit einem kommunistischen Regime, das auseinanderfällt. Sie sehen: Kurzfristig bin ich pessimistisch, langfristig optimistisch.»

Und den Anwalt der französischen Satire-Zeitschrift «Charlie Hebdo», Richard Malka. Nur einen Tag später sagte er in der «Neuen Zürcher Zeitung» auf die Frage, ob sich an den Schulen in Frankreich etwas geändert habe, seit der Lehrer Samuel Paty vor drei Jahren von einem Islamisten ermordet wurde – ich zitiere:

«Die Lehrer haben Angst. Ich denke, es gibt nicht mehr viele, die ihren Schülern Karikaturen zeigen. Ich bin nicht sehr optimistisch für die kurzfristige Entwicklung. Aber ich versuche, den Boden zu bereiten für das, was folgt, denn langfristig glaube ich, dass die Freiheit immer gewinnt.»

In diesem Sinne freue ich mich auf die Ausführungen meines Kollegen, Christian Lindner, und auf die Diskussion mit Ihnen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

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Ultima modifica 03.11.2023

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