Mut

Rede von Bundesrätin Karin Keller-Sutter am 1. August 2023 in Rapperswil-Jona.

Foto: Bundesrätin Karin Keller-Sutter hält ihre Rede.
© EFD

Geschätzter Herr Stadtpräsident
Liebe Besucherinnen und Besucher der Bundesfeier

Als klar war, dass ich am heutigen 1. August hier bei Ihnen in Rapperswil-Jona sprechen würde, musste ich in Bern ein wenig Aufklärungsarbeit leisten.

Man kennt zwar auch in Bern den Eishockey-Club und den Kinderzoo, aber damit hat es sich meistens auch schon.

Gut – dass Rapperswil-Jona am Zürichsee liegt, auch das ist vielen vermutlich bekannt. Aber dass es eine St. Galler und keine Zürcher Stadt ist, das ist im Westen dann doch für viele etwas Neues.

Zum Glück veröffentlichte aber grad zu jener Zeit die NZZ einen grossen Artikel über Rapperswil-Jona. Es ging im Artikel zwar um die Abstimmung über das Stadtparlament, der Autor holte aber weit aus und beschrieb auch die eindrückliche und bewegte Geschichte Ihrer Stadt.

Darum geht es mir heute. Um Geschichte. Und um Mut für die Zukunft.

Wir feiern heute ja nicht nur den 1. August.

Wir feiern dieses Jahr auch den 175. Geburtstag unserer Bundesverfassung und damit die Gründung unseres modernen Bundesstaats.

175 Jahre – das ist in der Geschichte der Menschheit eine sehr kurze Zeit.

Archäologische Untersuchungen haben gezeigt, dass das Gebiet hier bereits Tausende Jahre vor Christus besiedelt war.

In der Geschichte der Demokratie hingegen sind 175 Jahre eine ausserordentlich lange Zeit. Die Schweiz ist mit diesen 175 Jahren nämlich die älteste Demokratie Europas.

Wie sah die Schweiz damals aus?

Erwarten Sie jetzt keine vollständige historische Abhandlung, das kann der Leiter des Stadtmuseums besser als ich!

Ich möchte nur drei Eindrücke wiedergeben am Beispiel von Rapperswil-Jona, die damals natürlich noch nicht vereint waren.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzte erstens die Industrialisierung ein. Der Toggenburger Christian Näf errichtete 1803 hier am Stadtbach eine der ersten mechanischen Spinnereien der Schweiz.

Wie das «Historische Lexikon der Schweiz» zu berichten weiss, war man diesem Näf dafür allerdings nicht nur dankbar – vielmehr drohten Textilarbeiter aus der Region mehrmals, die Spinnerei zu zerstören, weil sie Angst hatten, ihre Arbeit zu verlieren. Ihre Sorge war natürlich nicht unbegründet, tatsächlich führte der Untergang der Handspinnerei damals zu einem grossen Verlust an Arbeitsplätzen.

Im 19. Jahrhundert revolutionierte sich zweitens das Transportwesen – und so wurde Rapperswil 1835 mit dem ersten Dampfschiff auf dem Zürichsee erschlossen.

Das Dampfschiff wurde im britischen Manchester gebaut, und seine Einzelteile mussten ab Basel mit Fuhrwerken an den Zürichsee transportiert werden.

Bei der Jungfernfahrt verglich eine lokale Zeitung die Geräusche, die das Schiff machte, mit der «Stimme eines Ungeheuers».

Und drittens war die Mitte des 19. Jahrhunderts von einer Auswanderungswelle geprägt. Grund dafür waren wirtschaftliche Nöte. Und schuld daran war nicht zuletzt die Kartoffelfäule, die damals die Felder Europas heimsuchte und auch in der Schweiz eine Versorgungs- und Wirtschaftskrise auslöste.

Das 19. Jahrhundert brachte aber nicht nur gesellschaftliche und wirtschaftliche Umbrüche, sondern auch politische.

Die Schweiz war damals gezeichnet von einem tiefen Graben zwischen reformiert-progressiven und katholisch-konservativen Kantonen.

Auch Rapperswil war einer von vielen historischen Schauplätzen dieses Konflikts, der später sogar zu einem Bürgerkrieg, dem Sonderbundskrieg, führte:

Ihre reizvolle Heimat hier am Zürichsee wurde früher nämlich von den katholischen Urkantonen als Bollwerk gegen das zwinglianische Zürich genutzt!

1803 wurden Rapperswil und Jona dann aber dem Kanton St. Gallen zugeteilt. Und damit jenem Kanton, der in der Geschichte des modernen Bundesstaats eine matchentscheidende Rolle spielte.

Und damit komme ich zurück zur Gründung des modernen Bundesstaats vor 175 Jahren.

Der Konflikt zwischen den liberal-radikalen und den katholisch-konservativen Kantonen spitzte sich in den 1840er Jahren zu.

1845 schlossen sich die acht katholisch-konservativen Kantone zum sogenannten Sonderbund zusammen.

Die liberal-radikalen Kantone sahen darin einen klaren Bruch mit dem Bundesvertrag von 1815 und wollten den Sonderbund gewaltsam auflösen.

Es ging um die grosse Frage, was die Schweiz der Zukunft sein sollte.

Ein konfessionell gespaltener Staatenbund? Oder eine freiheitlich-demokratische Nation, ein moderner Bundesstaat eben.

Der Kanton St. Gallen war selber gespalten. Noch 1847 gab es im Grossen Rat eine knappe katholische Mehrheit. Damit aber fehlte den liberal-radikalen Kräften in der Schweiz genau der eine Kanton, den sie brauchten, um mit militärischen Mitteln gegen den Sonderbund vorgehen zu können.

Im nahen Bezirk Gaster kam es dann zur entscheidenden Gemeindeversammlung. In Schänis wählten die Stimmbürger überraschend keine katholischen, sondern liberal-radikale Vertreter in den Grossen Rat des Kantons St. Gallen.

Damit kippte nicht nur die Mehrheit im st.-gallischen Grossen Rat, sondern mit dem Kanton St. Gallen auch die Mehrheit der Kantone in der eidgenössischen Tagsatzung zu Bern – und zwar zugunsten der Liberal-Radikalen und damit gegen den katholisch-konservativen Sonderbund.

Und so kam es 1847 zum erwähnten Sonderbundskrieg. Der Krieg dauerte dank der geschickten Führung des Genfer Generals Dufour zum Glück nicht lange, und er forderte auch vergleichsweise wenige Todesopfer.

Dieser Konflikt war übrigens keine rein innerschweizerische Angelegenheit: Die Schweiz war damals umgeben von autoritären Grossmächten, und diese waren ziemlich besorgt über den liberal-revolutionären Geist, der damals in ganz Europa aufkam und ihre Herrschaft bedrohte.

Die Grossmächte hatten aber auch kein Interesse daran, dass sich diese Bewegung in der Schweiz durchsetzen konnte, und unterstützten darum den Sonderbund.

Die liberal-radikalen Kräfte liessen sich von den Grossmächten allerdings nicht beeindrucken. Das zeigt eine Überlieferung aus dem Jahr 1847. Sie findet sich im Buch «Stunde Null» von Rolf Holenstein zur Gründung des Bundesstaats.

Die Grossmacht Frankreich intervenierte damals nämlich direkt beim radikal-liberalen Bundespräsidenten Ulrich Ochsenbein und drohte der Schweiz relativ unverhohlen mit Konsequenzen, falls sie nicht spuren sollte.

So soll der französische Gesandte Ochsenbein darauf hingewiesen haben, dass sich die Schweiz nicht täuschen sollte – ich zitiere – «bezüglich der Absicht der alliierten Mächte, in der Schweiz zu intervenieren».

Das liess sich Ochsenbein allerdings nicht gefallen und machte den Vorfall kurzerhand über die Presse öffentlich.

Demnach soll Ochsenbein dem Franzosen erwidert haben, ich zitiere nochmals:

«Wenn die alliierten Mächte Va-banque spielen wollen, so werden wir mitspielen.»

So viel zum Selbstbewusstsein der Liberal-Radikalen!

Der Schweiz kam dann zugute, dass die Konflikte im umliegenden Ausland eskalierten und die Grossmächte genügend eigene Sorgen hatten.

Und so machte sich 1848 in Bern eine 23-köpfige Kommission von Kantonsvertretern an die Ausarbeitung der ersten Bundesverfassung der Schweiz.

In nur 51 Tagen schaffte diese Kommission ein politisches Meisterwerk, das zum Grundstein wurde für die Erfolgsgeschichte der Schweiz bis heute.

Es war ein revolutionärer Vorgang und – wie die Geschichte zeigt – auch ein Wagnis.

Geschätzte Anwesende

Die Schweiz ist heute nicht mehr die gleiche Schweiz wie damals.

Sie hat sich ständig gewandelt. Die Gesellschaft hat sich gewandelt. Und in aller Regel zum Besseren.

Die Rechtsgleichheit, die damals, 1848, noch nicht für Juden galt, gilt heute für alle.

Das Stimm- und Wahlrecht, das damals nur für Männer galt, gilt es seit 1971 auch für die Frauen, spät aber immerhin.

Wir haben dank dem Ausbau der direkten Demokratie und der Konkordanz deutlich mehr politische Mitsprache als damals, und wir profitieren von einer ausserordentlich hohen politischen Stabilität.

Wir haben ein Bildungs- und ein Gesundheitswesen, um das uns viele beneiden.

Wenn es eng wird wirtschaftlich, müssen wir nicht mehr auswandern, wir können uns auf ein gutes soziales Netz verlassen.

Und – das ist das Wichtigste – wir leben in Freiheit und Frieden!

Dass das nicht selbstverständlich ist, hat uns der russische Krieg gegen die Ukraine schlagartig wieder bewusst gemacht.

Und trotzdem erleben wir heute Zeiten, die viele verunsichern.

Die Krisen haben sich in den letzten drei Jahren quasi die Hand gegeben. Zuerst die Pandemie, die nicht mehr aufzuhören schien, der brutale Krieg mitten in Europa, die Energieknappheit und im März auch noch die Credit Suisse.

Viele von uns besorgt aber auch der Klimawandel, die Migration, die steigenden Preise, die Veränderung unserer Lebens- und Berufswelt.

Darum ist es wichtig, den Blick nicht nur zurück zu richten in die Geschichte, sondern auch nach vorne.

Wir können dabei aber aus der Geschichte lernen.

Ich möchte drei Punkte nennen:

Erstens: Die freiheitliche Demokratie ist noch jung. Sie hat sich längst noch nicht gefestigt in der langen Geschichte der Menschheit. Im Moment ist sie weltweit auf dem Rückzug, und sie ist auch in Europa starken Spannungen ausgesetzt durch eine zunehmende politische Polarisierung.

Gerade wenn die Verunsicherung gross ist und der gesellschaftliche und wirtschaftliche Wandel uns wieder mehr abverlangt, wächst das Bedürfnis nach Struktur und Orientierung, nach einfachen Antworten auf schwierige Fragen. Und es wächst auch die Verlockung, Verantwortung abgeben zu können, an eine starke Figur oder einen starken Staat.

Das wissen die Populisten, links wie rechts.

Sie reden allerdings nie über den Preis, den jeder und jede mit der Zeit dafür zu zahlen hätte: nämlich Unfreiheit und Unfrieden.

Damit komme ich zum zweiten Punkt: Die schnellen und einfachen Antworten sind nicht immer die besten. Gute, tragfähige Lösungen sind auch selten das Resultat einer Ideologie oder blinder Empörung. Gute Lösungen entstehen aus dem Widerstreit der Ideen, sie sind fast nie schwarz-weiss. Sie brauchen die Auseinandersetzung.

Damit diese Auseinandersetzung aber Früchte tragen kann, braucht es auch eine gefestigte politische Kultur.

Die Gründungsväter der Schweiz haben vor 175 Jahren ein institutionelles Fundament geschaffen, auf dem sich eine politische Kultur der direkten Mitsprache und der Konkordanz und damit auch des Ausgleichs entwickeln konnte. Eine politische Kultur, die über alle Gräben hinweg identitätsstiftend ist.

Diese einzigartige politische Kultur hält unsere vielfältige Gesellschaft zusammen.

Und diese Kultur braucht Pflege. Dazu können wir alle beitragen, indem wir uns nicht nur selber einbringen, sondern auch die Meinung des anderen respektieren.

Wer die Gesellschaft spaltet, um daraus politischen Profit zu schlagen, setzt unsere politische Kultur und die Demokratie aufs Spiel – und damit auch gute, tragfähige Lösungen.

Und als dritten und letzten Punkt möchte ich den Mut zum Wandel nennen.

Nicht Wandel ist bedrohlich, sondern Stillstand.

Wir können den Wandel nicht aufhalten, nicht einmal mit Gewalt. Mit Stillstand, mit dem ängstlichen Beharren auf Bekanntem und Vertrautem, kann man den Herausforderungen der Zeit nicht begegnen.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Es ist genauso wichtig, seine Wurzeln zu kennen und verwurzelt zu bleiben. Sie sorgen für die nötige Standfestigkeit und für Halt, gerade in bewegten Zeiten.

 «Zeitgenossen sein, Eidgenossen bleiben», so hatte es einst der Ostschweizer Historiker Georg Thürer auf den Punkt gebracht.

Darum bin ich auch Fan des 1. Augusts. Der 1. August wurde ja erst 1891 zum ersten Mal und ab 1899 dann jährlich gefeiert. Also erst 600 Jahre nach dem Rütlischwur und dem Bundesbrief von 1291.

Bundesbern hatte auf dieses frühe Ereignis in der Geschichte der Eidgenossenschaft zurückgegriffen, um den Zusammenhalt der Nation über die konfessionellen Gräben hinweg zu stärken.

Der 1. August wurde damit auch zu einem Feiertag der Versöhnung.

Die Gründung des Bundesstaats von 1848 eignete sich dafür aus offensichtlichen Gründen nicht, die Wunden des Konflikts waren noch zu frisch.

Auch der moderne Bundesstaat wusste also, wie wichtig starke und gemeinsame Wurzeln für unsere Identität sind.

Liebe Anwesende

Kürzlich haben mich Jugendliche gefragt, wie man denn Zuversicht finden könne als junge Generation, wenn man in einer Zeit lebe, in der eine Krise auf die andere folge.

Ich meine, wir können diese Zuversicht gerade aus diesen Krisen gewinnen.

Wir haben die Pandemie bewältigt.

Wir waren in der Lage, innert Kürze Zehntausenden Menschen aus der Ukraine Schutz zu gewähren.

Und wir haben im März, als die Credit Suisse am Abgrund stand, innert vier Tagen massive Schäden für unser Land, für unsere Volkswirtschaft und die Menschen in diesem Land verhindern können.

Erlauben Sie mir hier eine persönliche Bemerkung: Nichts wäre mir lieber gewesen, als wenn uns das erspart geblieben wäre. Denn auch ich habe mich geärgert, wie ganz viele in der Schweiz.

Ich habe mich geärgert, dass die Bank ihre Verantwortung nicht wahrgenommen hat – die Verantwortung gegenüber ihren Mitarbeitenden und ihren Kundinnen und Kunden, aber auch gegenüber unserem Land und dem Wirtschaftsstandort Schweiz.

Aber es ging in diesem Moment nicht um meine persönliche Befindlichkeit und es ging auch nicht darum, eine Bank zu retten. Es ging darum zu verhindern, dass die Bank weiteren Schaden anrichten kann. Und das ist dem Bundesrat und unseren Behörden gelungen.

Aber die Arbeit ist noch nicht zu Ende. Wir müssen auch dafür sorgen, dass sich ein solcher Fall möglichst nicht wiederholen kann.

All diese Beispiele zeigen: Wir sind handlungsfähig.

Wir sind handlungsfähig, weil wir funktionierende Institutionen haben.

Und wir sind – erlauben Sie mir diese Bemerkung als Finanzministerin – auch handlungsfähig, weil unser Staat finanziell gesund ist.

Das kann uns zuversichtlich stimmen.

Handeln, das braucht aber immer auch Mut.

Und das möchte ich Ihnen heute wünschen: Mut. Mut im Kleinen und im Grossen. Der Mensch ist widerstandsfähiger als wir selber oft meinen. Auch das kann uns zuversichtlich stimmen.

Und wenn wir nicht verlernen, uns gerade in schwierigen Zeiten zu verständigen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen, werden wir auch die weiteren Herausforderungen bewältigen können.

Ich danke Ihnen herzlich, dass Sie mich heute nach Rapperswil-Jona eingeladen haben, und ich wünsche Ihnen allen und Ihren Familien einen schönen 1. August.

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Ultima modifica 07.02.2024

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