«Die Verschuldung ist eine Gefahr für die Welt»

NZZ am Sonntag (Andrea Kučera, Beat Balzli ) - Finanzministerin Karin Keller-Sutter meint warnend, die Menschen und die Medien hätten die Folgen der weltweiten Schuldenkrise viel zu wenig auf dem Radar. Sie befürchtet soziale Unruhen und hat eine Idee, wie sie dem Mittelstand helfen will.

NZZ am Sonntag: Frau Keller-Sutter, wie riskant legen Sie privat Ihr Geld an?

Karin Keller-Sutter: Absolut konservativ, auf dem Sparkonto. Wenn man Anlagen tätigen will, muss man Zeit haben. Und diese Zeit habe ich nicht.

Also sind nicht einmal Staatsanleihen dabei?

Nein.

Gut möglich, dass Sie mit dieser Anlagestrategie richtigliegen. Der Internationale Währungsfonds (IMF) rechnet damit, dass die weltweite Staatsverschuldung in den kommenden Jahren weiter steigt. In den USA liegt die Schuldenlast bereits bei 123 Prozent des Bruttoinlandprodukts, das sind über 30 Billionen Dollar Schulden. Ist diese Situation noch beherrschbar?

Die Verschuldung war ein grosses Thema an meinen Treffen am WEF diese Woche mit Finanzministern und der Direktorin des IMF. Sie ist eine Gefahr für die Finanzmarktstabilität und die weltweite Konjunktur. Die USA beispielsweise sind so verschuldet wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Frankreich braucht bald mehr Geld für den Schuldendienst als für die Verteidigung. Die Staaten haben es versäumt, in der Zeit tiefer Zinsen die nötigen Reformen zu machen. Das rächt sich nun.

Wie konnte es so weit kommen?

Geld war billig, und einige Zentralbanken – die Schweizerische Nationalbank nehme ich hiervon aus – haben leider politisch agiert statt wirtschaftlich. Jetzt sind mit der Inflationsbekämpfung plötzlich die Zinsen gestiegen. Hinzu kommt, dass die westlichen Staaten wegen des Kriegs in der Ukraine gezwungen sind, in die Rüstung zu investieren, obwohl sie das Geld für diese Ausgaben eigentlich nicht haben. Auch das gehört womöglich zum Kalkül von Putins hybrider Kriegsführung. Er will den Westen wirtschaftlich schwächen.

Ist eine globale Schuldenkrise programmiert, wenn es so weitergeht?

Wir müssen alles tun, um das zu verhindern. Leider hat der IMF, der beim Schuldenabbau eigentlich eine Schlüsselrolle spielt, erst zu spät zu warnen begonnen. Die Arbeiten werden zudem durch geopolitische Differenzen erschwert. Das muss sich ändern. Die Geopolitik darf dieses Gremium nicht paralysieren. Die Welt muss sich zwingend hinter den Zielen der Finanzstabilität zusammenraufen. Was mir Sorgen bereitet: Die Menschen und die Medien haben die Konsequenzen dieser weltweiten Verschuldung viel zu wenig auf dem Radar. Ein Land, das immer weiter Schulden anhäuft, rutscht früher oder später in eine Wirtschafts- und Finanzkrise.

Was droht im schlimmsten Fall?

Wohlstandsverlust und damit einhergehend politische Instabilität und soziale Unruhen. Das ist letztlich die Gefahr, wenn der Staat auf Dauer zu viel Geld ausgibt, das er nicht hat: dass es allen schlechter geht, wobei eine Rezession jene härter trifft, die ohnehin schon weniger gut situiert sind.

Die Menschen scheint diese Gefahr in der Tat wenig zu kümmern. Man hat im Gegenteil den Eindruck, dass sie sich nach den Erfahrungen in der Pandemie, als die öffentliche Hand Milliardensummen für Corona-Hilfen ausgab, an einen starken Staat gewöhnt haben.

Dieser Mentalitätswandel, der sich in der Corona-Krise beschleunigt hat, ist ein grosses Problem. Man hat seither die Tendenz, sofort nach dem Staat zu rufen, wenn irgendwo eine Fehlentwicklung einsetzt. Ohne sich zu überlegen, dass das Steuergelder sind. Es war zwar richtig, dass die öffentliche Hand half, wenn zum Beispiel jemand unverschuldet sein Geschäft wegen der Massnahmen gegen das Virus schliessen musste. Zunehmend geht aber vergessen, dass der Bund nur dank der Schuldenbremse in der Lage war, den Menschen mit Milliarden unter die Arme zu greifen. Nach Corona müssen wir zurück zur finanzpolitischen Normalität.

Danach sieht es international nicht aus. Die immer neuen Schuldenstände werden auch geopolitisch gerechtfertigt. Die EU will ihre Abhängigkeit von China verringern, indem sie mit astronomischen Subventionen versucht, Chipproduzenten anzulocken. Die USA halten mit Subventionen für grüne Investitionen dagegen. Wo endet dieses Rattenrennen?

Tatsächlich sehen wir heute nicht mehr einen Steuer-, sondern einen Subventionswettbewerb. Doch Subventionen sind ein süsses Gift. Sie sind nicht nachhaltig. Ich halte weder Subventionen für die Chipproduktion noch für einen forcierten ökologischen Umbau der Wirtschaft für ein gutes Modell für die Schweiz. Wir sollten auf unsere Stärken setzen: einen liberalen Arbeitsmarkt, solide Finanzen, das duale Berufsbildungssystem, keine überbordende Bürokratie.

In Deutschland sehen wir gerade, wie das Finanzierungsgerüst zusammenbricht. Die Regierung wollte die Schuldenbremse umgehen, wurde aber vom Verfassungsgericht gestoppt. Jetzt muss gespart werden, und die Proteste sind gross. Zudem rutschte das Land 2023 in eine Rezession. Wie grosse Sorgen macht Ihnen die Lage in Deutschland?

Es ist eine unerfreuliche Situation. Deutschland hatte immer eine robuste Wirtschaft, nun ist das Land in einer Rezession. Das macht mir grosse Sorgen. Deutschland ist unser wichtigster Handelspartner. Viele hiesige Firmen sind beispielsweise Zulieferer der deutschen Automobilindustrie. Ich hoffe, dass Deutschland den Turnaround schafft. Ganz Europa hat ein Interesse, dass die deutsche Wirtschaft funktioniert.

Auslöser der massiven Bauernproteste in Deutschland ist, dass die Regierung die Subvention von Agrardiesel kürzen will. Auch in der Schweiz hat man diese Massnahme schon mehrfach ins Auge gefasst, sie aber nie umgesetzt. Ist die Macht der Bauernlobby hierzulande zu gross?

Die Bauern sind einfach besser organisiert als andere Lobbys. Interessant ist ja: Ihr Einfluss im Parlament ist seit den Wahlen noch grösser geworden. Das ist ein Stück weit ein Abbild der Schweiz. Jeder hat in der Familie jemanden, der Bauer ist. Meine Mutter war eine Bauerntochter, mein Vater stammt von einem Gewerbe- und Bauernbetrieb. Mein Götti ist Bauer. Vielen ist die Landwirtschaft immer noch sehr nahe.

Bald müssen vielleicht auch die Bauern Kürzungen hinnehmen. Denn die finanzpolitische Lage verdüstert sich selbst in der Schweiz. Ab 2025 droht jährlich eine Lücke von 2 bis 3 Milliarden in der Staatskasse. Gleichzeitig sind zwei Drittel der Ausgaben gesetzlich gebunden. Wo sehen Sie trotz diesem engen Korsett Spielraum zum Sparen?

Wir werden die bisherigen Sparbemühungen wie etwa die Kürzung von Einlagen in gut dotierte Fonds fortsetzen. Das Problem ist jedoch, dass dies nicht nachhaltig ist. Man kann so mit Ach und Krach ein Schuldenbremse-konformes Budget präsentieren. Aber es wird mehr brauchen. Darum werde ich dem Bundesrat eine Aufgaben- und Subventionsüberprüfung beantragen. Rund 80 Prozent des Bundeshaushaltes entfallen auf Transferleistungen an Kantone, Sozialversicherungen, die SBB, die ETH und viele andere. Sind all diese Zahlungen effizient? Worauf könnte man verzichten, ohne Leistungen abzubauen? Es ist Zeit, alles auf den Tisch zu bringen.

Das tönt radikal.

Die Idee ist, dass externe Personen mit Verwaltungswissen sämtliche Aufgaben und Subventionen des Bundes unvoreingenommen unter die Lupe nehmen. Sobald wir diese Auslegeordnung haben, sehen wir weiter. Es geht darum, die Bundesfinanzen zu stabilisieren und finanzpolitischen Handlungsspielraum zurückzugewinnen. Damit stärkt man den Staat.

Der Kampf um die 13. AHV-Rente

Ein Blick auf die kommenden Abstimmungen zeigt: Der Trend geht in die gegenteilige Richtung, in Richtung steigender Staatsausgaben. Zweimal wird das Schweizer Stimmvolk 2024 über einen Ausbau des Sozialstaates abstimmen: im Juni über die Prämienentlastungsinitiative und bereits im März über die 13. AHV-Rente. Jüngste Umfragen sagen der 13. AHV-Rente eine Zustimmung von satten 71 Prozent voraus. Für die Finanzministerin ist es eine schwierige Ausgangslage. Während sich SP und Gewerkschaften als Mittelstand-Versteher inszenieren können, die gegen den Kaufkraftverlust vorgehen, muss Keller-Sutter den Sparhammer schwingen.

Im Interview mit der NZZ warnten Sie vor Mehrausgaben und Steuererhöhungen, sollte die 13. AHV-Rente angenommen werden. Der Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard nannte Ihre Prognose unseriös. Was antworten Sie ihm?

Die Prognose zu den finanziellen Folgen der 13. AHV-Rente stammt nicht von mir, sondern vom Innendepartement. Eine Annahme würde mittelfristig Mehrkosten von gut 5 Milliarden pro Jahr generieren, wovon der Bund 1 Milliarde übernehmen müsste. Dass man dann nicht um Mehreinnahmen herumkommt, liegt auf der Hand. Die Finanzperspektiven zur AHV in den letzten zehn Jahren hatten eine sehr hohe Treffgenauigkeit. Der Bund hat praktisch eine Punktlandung hingelegt.

Also macht Herr Maillard pure Polemik?

Der Bundesrat stützt sich auf die Zahlen der Verwaltung.

Herr Maillard glaubt auch, man könne die Finanzierung der 13. AHV-Rente anders lösen als mit Steuererhöhungen. Für die Erhöhung der Armeeausgaben habe man auch andere Mittel gefunden. Sind Sie zu wenig kreativ, Frau Bundesrätin?

Ich halte nichts davon, verschiedene Staatsausgaben gegeneinander auszuspielen. Die Ersten sagen, die internationale Zusammenarbeit sei nicht wichtig, die Zweiten finden, man könne im Sozialbereich kürzen. Und die Dritten wollen bei der Armee sparen. Es gibt Grundaufgaben, die der Staat erfüllen muss. Aber so, dass es finanzierbar bleibt. Bei der AHV kommt noch etwas hinzu.

Nämlich?

Diese Mehrausgaben würden mit der Giesskanne auf alle Rentnerinnen und Rentner verteilt. Doch Sozialpolitik muss zielgerichtet sein. Bedürftige Rentner sollen unterstützt werden, dafür gibt es die Ergänzungsleistungen. Es ist aber nicht richtig, eine Mehrbelastung zu generieren – die ja jemand bezahlen muss –, um selbst Menschen eine 13. AHV-Rente auszurichten, die das überhaupt nicht nötig haben. Ich hoffe sehr, dass das Volk, so wie es das bis jetzt immer getan hat, das grosse Bild im Auge behält. Und nicht auf Selbstoptimierung setzt.

Sie sind in der Rolle der knausrigen eisernen Lady, die den Menschen Rentenerhöhungen und Prämienentlastungen verwehren will. Wie fühlt es sich an, gegen den Zeitgeist zu regieren?

Das ist für mich nichts Neues. Ich habe mich nie vor schwierigen Herausforderungen gescheut. Der Bundesrat hat mir die Aufgabe als Finanzministerin übertragen in der Erwartung, dass ich den Bundeshaushalt wieder ins Lot bringe. Es mag sein, dass das momentan unpopulär ist, aber letztlich ist es nicht anders als bei jedem Privathaushalt. Man kann auf Dauer nicht mehr ausgeben, als man einnimmt.

Eine Person aus dem unteren Mittelstand sieht das womöglich anders. Was sagen Sie denjenigen, die feststellen mussten: Für die Armee und die Bauern gibt es Geld, doch ich muss mit meinem Kaufkraftverlust selbst fertigwerden?

Ich habe Verständnis dafür, dass man so denkt. Aber der Staat hat nun mal verschiedene Aufgaben. Es braucht die soziale Sicherheit. Wir müssen aber auch unser Gesundheitssystem finanzieren und unsere Verteidigung. In verschiedenen Lebenslagen profitiert man unterschiedlich von diesen staatlichen Leistungen. Wenn man den Bürgerinnen und Bürgern wirklich helfen will, muss man Steuern und Abgaben tief halten, Bürokratie abbauen, auf unnötige Gesetze verzichten. Wenn man hingegen Steuern erhöhen muss, dann trifft das auch den Mittelstand.

Vielleicht sollte der Mittelstand einfach mehr Aktien kaufen, um den Kaufkraftverlust auszugleichen. Würden Sie zum Kauf von UBS-Aktien raten?

Ich bin keine Finanzberaterin.

Die Folgen der CS-Krise

Als die Credit Suisse aufgrund ihrer viel zu riskanten Anlagestrategie letzten März vor dem Kollaps stand, fädelte Keller-Sutter zusammen mit der Finanzmarktaufsicht (Finma) und der Notenbank die Übernahme der CS durch die UBS ein. Diese Aktion machte die Schweizer Finanzministerin auf einen Schlag global bekannt. Die «Financial Times» kürte sie jüngst zu einer der einflussreichsten Frauen des Jahres 2023. Das Lob aus dem Ausland kontrastiert mit den kritischen Stimmen im Inland: War die Übernahme durch die UBS wirklich die beste Lösung? Hat die Bank ihre Staatsgarantien viel zu günstig bekommen? Und vor allem: Wie lässt sich ein Kollaps der neuen Monsterbank UBS künftig verhindern? Der Bundesrat wird im Frühling seine Pläne für eine überarbeitete Too-big-to-fail-Bankenregulierung vorstellen.

Müssen wir davon ausgehen, dass die Kapitalanforderungen an die UBS deutlich strenger werden?

Ich kann dem Too-big-to-fail-Bericht des Bundesrats nicht vorgreifen. Aber das ist eine Frage, die wir in diesem Rahmen prüfen. Es ist eine Gratwanderung zwischen der Wettbewerbsfähigkeit einer Bank und dem Schutz der Volkswirtschaft. Es kann nicht sein, dass am Schluss der Steuerzahler für das fragwürdige Risikoverhalten einer Bank aufkommen muss. Wir müssen das Risiko eines Kollapses einer Grossbank so weit wie möglich minimieren.

Also werden die Kapitalanforderungen steigen?

Wir haben noch keinen Entscheid getroffen. Der Bundesrat wird im Frühling seine Vorschläge präsentieren.

Auffällig ist, dass man in der CS-Krise gemerkt hat, dass die Too-big-to-fail-Regulatorien gar nicht greifen. Man hat auch den Bank-Run falsch eingeschätzt.

Die Geschwindigkeit, mit der die Kunden ihr Geld von der CS abzogen, konnte niemand vorhersehen. Auf dem Höhepunkt der Krise, am 19. März, hatte die Bank 168 Milliarden Franken Liquidität von der Nationalbank bezogen. Diese Summe ist präzedenzlos. Und was das Too-big-to-fail-Framework betrifft: Es hat geholfen. So hat die CS gemäss der Finanzmarktaufsicht die regulatorischen Vorgaben eingehalten. Aber das Problem war: Der Markt hat es nicht geglaubt. Die CS hatte das Vertrauen verspielt.

Noch immer gibt es Stimmen, die sagen, man hätte die CS auch Konkurs gehen lassen können.

Theoretisch ja, aber die Risiken wären ungleich grösser gewesen. Eine Abwicklung der CS hätte womöglich zu einer Ansteckung anderer Banken geführt und damit zu massiven volkswirtschaftlichen Verwerfungen in der Schweiz. Sie hätte auch eine Systemkrise weltweit auslösen können. Auch international war die Angst vor einer globalen Finanzkrise riesig. Das wurde mir erneut bewusst, als ich im November beim Finanzminister eines Landes war, das nun wirklich keinen wichtigen Finanzplatz hat. Trotzdem sagte mir der Kollege, er habe in dieser Woche im März nicht mehr gut schlafen können. Er sei nachts um zwei in Sorge aufgewacht.

Mit der Übernahme der CS durch die UBS konnte der Kollaps abgewendet werden. Trotzdem bleibt ein schaler Nachgeschmack. Viele Leute sind sauer.

Zu Recht.

Ein paar CS-Manager haben sehr viel Geld verdient, obwohl sie die Bank an die Wand gefahren haben. Kommen die Verantwortlichen tatsächlich ungeschoren davon?

Das ist keine Frage, die der Bundesrat beantworten kann. Er ist weder Eigentümer noch Geschädigter und auch kein Gericht. Persönlich aber bin ich der Meinung, dass es nicht geht, wenn man so feudal entschädigt wird, obwohl die Leistung nicht stimmt. Mein Vater sagte immer: «Mit Arbeiten kann man gar nicht so viel Geld verdienen.» Er hatte recht.

Braucht es Lohnobergrenzen?

Nein. Aber es braucht Anstand. Niemand versteht, wenn Millionenbeträge an Boni ausbezahlt werden, obwohl ein Unternehmen nicht profitabel ist.

Solche Exzesse sind auch Gift für den Kitt in einer liberalen Gesellschaft.

Absolut. Aber man muss auch sehen: Die Mehrheit der Unternehmen in der Schweiz wirtschaftet anständig. Wir sprechen bei der CS von einem Extremfall. So etwas kann man womöglich nie ganz verhindern. Anstand kann man nicht regulieren. Es gibt aber eine gesellschaftliche Ächtung, und die ist manchmal schlimmer als rechtliche Konsequenzen.

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Letzte Änderung 21.01.2024

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