Zum Hauptinhalt springen

RedenVeröffentlicht am 24. September 2025

Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen

Rede von Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter

Karin Keller-Sutter, Präsidentin der Schweizerischen Eidgenossenschaft, spricht vor der hochrangigen Tagung der Generalversammlung der Vereinten Nationen

Video

Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Frau Präsidentin der Generalversammlung
Sehr geehrter Herr Generalsekretär
Exzellenzen
Sehr geehrte Damen und Herren

Vor 80 Jahren erlebte die Welt eine Zeitenwende zum Guten. Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Am 8. Mai 1945 endete der Krieg in Europa. Und am 25. Juni 1945, noch vor der Kapitulation Japans, verabschiedeten 50 Staaten in San Francisco die Charta der Vereinten Nationen.

Diese 50 Staaten waren, ich zitiere aus der Charta, «fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geissel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat».

Auf den Trümmern des Zweiten Weltkriegs entstand damals aus einer gemeinsamen Überzeugung und mit dem gemeinsamen Willen, Frieden und Wohlstand in die Welt zu bringen, eine neue internationale Ordnung. Aus den Schrecken dieser Zeit entstanden 1949 auch die Genfer Konventionen zum Schutz von Menschen in bewaffneten Konflikten.

In jenen Jahren wurden die Grundlagen geschaffen für eine jahrzehntelange Erfolgsgeschichte der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Marktwirtschaft – Grundlagen, die trotz aller Einschränkungen und Rückschläge auch der internationalen Zusammenarbeit, dem Freihandel, dem Frieden und dem Völkerrecht zugutekamen.

Ich ziehe keine historischen Parallelen, aber so viel kann man sicher sagen: Wir feiern diesen 80. Geburtstag der Vereinten Nationen in einer Zeit, in der wir erneut ausserordentlich heftige politische und wirtschaftliche Verwerfungen erleben.

Eine Zeit, in der erneut zu viele Kriege wüten und die Bevölkerung unerträgliches Leid erleben muss. Eine Zeit, in der ein gerechter, dauerhafter Frieden im Nahen Osten und in der Ukraine immer noch weit entfernt scheint, in der autokratische Tendenzen sich verstärken, auch in Europa. Eine Zeit, in der der Freihandel auf die Probe gestellt wird – und in der letztlich das Völkerrecht, einschliesslich der Charta der Vereinten Nationen, zu Makulatur zu werden droht.

Es sind Verwerfungen, die nicht aus dem Nichts kommen, sie sind das Resultat von Entwicklungen, die teilweise weit zurückreichen und die man – rückblickend – viel zu lange viel zu wenig ernst genommen hat. Wir müssen ehrlich sein: Es sind Entwicklungen, auf die es keine einfachen Antworten gibt, weder auf der internationalen noch auf der nationalen Ebene.

Und es reicht auch nicht, hier einmal mehr und ausschliesslich mit Reden die Vorzüge einer bestimmten Staatsform, der Rechtsstaatlichkeit, des Völkerrechts, des Freihandels und des Multilateralismus zu unterstreichen. Nein, wenn wir die Herausforderungen meistern wollen, müssen wir grössere Anstrengungen unternehmen. Denn was sind alle zivilisatorischen Errungenschaften wert, wenn sie nicht konkret zu Freiheit, Sicherheit und Wohlstand beitragen, wenn ihre Vorzüge für die Menschen nicht greifbar werden, spürbar in ihrem Alltag?

Zwei Fehler sollten wir dabei nicht machen:

  • erstens mit dem Finger immer nur auf die anderen Staaten zeigen;
  • zweitens die internationalen Organisationen mit der Arbeit allein lassen – und so tun, als wären die internationalen Organisationen jemand anders als wir selbst.

Sehr geehrte Damen und Herren

Wir sollten mit der Arbeit dort beginnen, wo wir unmittelbar Freiheit gewähren und zu Sicherheit und Wohlstand beitragen können. Und das ist in der Regel bei uns selbst, bei uns zuhause. Verstehen Sie mich nicht falsch: Das ist kein Loblied auf nationalstaatliche Egoismen und keine Kritik am Multilateralismus!

Im Gegenteil: Die Schweiz ist überzeugt, dass der Multilateralismus, dass internationale Organisationen, dass die Vereinten Nationen zentral sind für die friedliche Koexistenz der Völker, für den Wohlstand auf der Welt, für die Lösung von Herausforderungen wie der Migration, dem Klimawandel und der Digitalisierung sowie – das sage ich auch als Finanzministerin – für die Sicherung der globalen Finanzstabilität.

Im vergangenen Jahr haben wir gemeinsam den Zukunftspakt verabschiedet und damit unser Bekenntnis zum Multilateralismus klar unterstrichen. Ein zentraler Träger des Paktes ist die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Die Umsetzung beider Vereinbarungen hat höchste Priorität.

Die Schweiz ist auch überzeugt, dass der Standort Genf einen einzigartigen Beitrag zur Erreichung dieser Ziele leisten kann. Genf, das operative Zentrum der Vereinten Nationen, bündelt grosse Expertise zu wegweisenden Fragen – vor allem im Zusammenhang mit Humanität und Innovation. Dieses einzigartige Ökosystem bietet Raum für gemeinsames Reflektieren, Diskutieren und Agieren.

Aber jede starke internationale Organisation braucht starke Mitglieder. Und wenn ich stark sage, meine ich nicht Stärke durch Grösse oder militärische Schlagkraft. Ich meine Staaten, die in der Lage sind, für ihre Bürgerinnen und Bürger einen sicheren Raum zu schaffen, in dem sie sich frei entfalten – und vor allem auch frei ausdrücken – können. Sicherheit – nicht nur militärische, sondern auch rechtliche, wirtschaftliche und soziale Sicherheit. Sicherheit und Freiheit, das sind die wichtigsten Voraussetzungen für wirtschaftliche Entwicklung und damit für den Wohlstand.

Das bedingt Institutionen, die rechtlich verlässlich, berechenbar und handlungsfähig sind. Und es bedingt politische, soziale und finanzielle Stabilität. Hier steht jeder Staat auch selbst in der Verantwortung. Diese Verantwortung können wir nicht einfach an eine internationale Organisation delegieren.

Sehr geehrte Damen und Herren

Von der inneren Stärke, dem Wohlergehen und der Stabilität der einzelnen Staaten profitiert auch die internationale Gemeinschaft. Nur innerlich gefestigte Staaten können wahrhaftig solidarisch sein und zu einer erfolgreichen internationalen Gemeinschaft beitragen. Aber auch als internationale Gemeinschaft müssen wir uns noch mehr anstrengen.

Gerade heute müssen sich auch die Vereinten Nationen kritisch hinterfragen: Können sie ihre Funktion noch so erfüllen, wie es die 50 Staaten am 25. Juni 1945 in San Francisco vorsahen, als sie die Charta der Vereinten Nationen verabschiedeten?

Auch der Multilateralismus wird erschüttert. Verstösse gegen Normen häufen sich, Grundsätze und Werte mulilateralen Handelns werden missachtet: Grundsätze und Werte wie Dialog, Zusammenarbeit, Konsensfindung, Achtung des Völkerrechts und souveräne Gleichheit der Staaten – unabhängig von Grösse, wirtschaftlicher Stärke oder politischem Einfluss.

Die Schweiz ruft alle Staaten auf, die vor 80 Jahren in der UNO-Charta verankerten Grundsätze und Werte erneut entschieden zu bekräftigen. Nur dann ist es möglich, Reformen und Effizienzmassnahmen zu reflektieren, welche die Wirkung unseres Handelns in den drei Säulen der UNO verstärken. In diesem Sinne stehen wir vollumfänglich hinter dem Reformprogramm «UNO 80» des Generalsekretärs.

Multilaterales Handeln muss effizienter, kohärenter, flexibler und effektiver werden. Dieser Grundsatzsoll all unseren Entscheidungen zugrunde liegen. Es braucht einen systematischen und tragfähigen Ansatz, um die UNO von morgen gemeinsam zu definieren. Jede Reform muss darauf abzielen, die Wirkungskraft der Vereinten Nationen mittel- und langfristig zu verstärken.

Ich kann Ihnen versichern, dass die Schweiz sich weiterhin für die Reformbemühungen, für eine effizientere UNO und für einen nachhaltigen Multilateralismus einsetzt, sowohl als verlässlicher Sitzstaat als auch als engagierter Mitgliedstaat.

Exzellenzen
Sehr geehrte Damen und Herren

Wir sind heute nicht am gleichen Punkt wie vor 80 Jahren. Wir sind mitten in einer kritischen Phase und das nächste Kapitel der Geschichte ist noch nicht geschrieben. Das heisst auch, dass wir es aktiv mitgestalten können.

Ich zitiere einen Auschwitz-Überlebenden, den italienischen Schriftsteller Primo Levi: «Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.»

Aber es muss nicht unbedingt wieder geschehen. Und es darf nicht wieder geschehen. Deshalb wurden vor 80 Jahren die Vereinten Nationen geschaffen. Deshalb sind wir heute hier. Es ist an uns, dafür zu sorgen, dass diese Zeitenwende, von der heute wieder so oft die Rede ist, wie bereits vor 80 Jahren eine Wende zum Guten sein wird.

Hüten wir uns vor Überheblichkeit und vor Bequemlichkeit und machen wir uns an die Arbeit – bei uns zuhause und gemeinsam in den Vereinten Nationen.

Bundesrätin Karin Keller-Sutter

Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter während der ersten offiziellen Bundesratssitzung des Jahres 2025

Präsidialjahr 2025

Karin Keller-Sutter amtet im Jahr 2025 als Bundespräsidentin.

Bundesrätin Karin Keller-Sutter zu Beginn der Debatte im Nationalrat

Biografie

Bundesrätin Karin Keller-Sutter ist seit Januar 2023 Vorsteherin des Eidgenössischen Finanzdepartments EFD und ist seit 2019 im Bundesrat. Zuvor war sie Ständerätin des Kanton St. Gallen.

Autogrammkarte

Hier können Sie eine Autogrammkarte der Bundespräsidentin bestellen.

Bundesrätin Karin Keller-Sutter diskutiert während einer Podiumsdiskussion mit Journalist Sebastian Ramspeck,

Interviews und Beiträge

Eine Auswahl an Interviews von Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter.

Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter spricht an der Fruehjahrssession der Eidgenössischen Räte

Reden

Reden von Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter im Wortlaut.