Rede am St. Gallen Symposium
Donnerstag, 8. Mai 2025, 54th St. Gallen Symposium 2025

Geschätzte Damen und Herren
Heute ist ein besonderer Tag. Natürlich auch darum, weil ich mich freue, erneut am St. Galler Symposium teilnehmen und zu Ihnen und mit Ihnen sprechen zu dürfen. Vielen Dank!
Es ist aber vor allem darum ein besonderer Tag, weil vor genau 80 Jahren die deutsche Wehrmacht vor den Alliierten kapituliert hat. Am 8. Mai 1945 nahm damit eines der grausamsten und leidvollsten Kapitel der europäischen Geschichte ein Ende. Warum ist die Erinnerung an das Kriegsende vor 80 Jahren wichtig? Ich nenne zwei Gründe:
Erstens, weil wir das Gedenken an die Opfer des Zweiten Weltkriegs, darunter 6 Millionen Jüdinnen und Juden, immer wieder erneuern müssen. «Nie wieder», lautete damals die Losung – und sie muss es auch in Zukunft bleiben.
Und, zweitens, weil der Blick zurück verdeutlicht, dass Frieden und Demokratie, dass Sicherheit und Wohlstand Errungenschaften sind, die wir nie als gesichert erachten können.
Geschätzte Damen und Herren
Das Ende des Zweiten Weltkrieges war der Startpunkt für eine neue internationale Ordnung, in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht. Einige Minuten reichen nicht, um der Geschichte gerecht zu werden, und ich überlasse die Geschichtsschreibung auch lieber den Historikerinnen und Historiker.
So viel lässt sich in Kürze aber sicher sagen: Es wurden damals – unter starker amerikanischer Führung - die Grundlagen geschaffen für eine jahrzehntelange Erfolgsgeschichte der Demokratie und der Marktwirtschaft. Die Nachkriegsordnung war, ich möchte das betonen, keineswegs perfekt. Zu viele Konflikte und Kriege zeugen davon.
Unter dem Strich sorgte sie aber für mehr Stabilität und damit mehr Sicherheit und mehr Wohlstand für grosse Teile der Menschheit. Bestätigt und gestärkt wurde die liberale Ordnung schliesslich durch den Fall des Eisernen Vorhangs vor über 30 Jahren.
Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine vor drei Jahren, mitten in Europa, erscheint uns heute darum als Wendepunkt in der Geschichte. Putins Krieg machte sichtbar, wie fragil die internationale Ordnung ist. Allerdings hatten sich in den Jahren zuvor schon Risse gebildet.
Mit dem wirtschaftlichen Aufstieg Chinas und dem Aufkommen illiberaler Tendenzen in manch anderen Staaten.
Mit dem islamistischen Terror – wann haben Sie das letzte Mal an 9/11 gedacht?
Mit dem wieder vermehrt um sich greifenden Protektionismus, befördert auch durch den Schock der Corona-Pandemie.
Aber auch der Multilateralismus und die Welthandelsordnung sind schon länger ins Rutschen geraten, nicht erst mit der zweiten Trump-Administration. Neu ist jetzt die Geschwindigkeit. All das spielt sich ab vor dem Hintergrund eines starken demographischen Wandels, der rapide fortschreitenden Digitalisierung und des Klimawandels. Und, das betone ich auch als Finanzministerin, vor dem Hintergrund einer steigenden Verschuldung vieler Staaten.
Meine Damen und Herren
Die Welt von gestern ist vorbei. Es wird nicht einfach wieder so werden, wie es einmal war. Die Welt ordnet sich gerade neu. Mit der neuen US-Regierung wird dieser Prozess jetzt noch etwas unvorhersehbarer, als er ohnehin schon war. Wir navigieren auf ein neues Gleichgewicht zu, das voraussichtlich mehr machtpolitisch geprägt und weniger regelbasiert ist.
Wir wissen heute aber noch nicht, wie dieses neue Gleichgewicht genau aussehen wird, wann es sich einstellt und welche Spielregeln gelten werden. Man darf sich nichts vormachen: Die Schweiz wird diese neuen internationalen Spielregeln nicht massgeblich prägen können. Das war vor 80 Jahren nicht anders.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Auch die Schweiz kann und soll ihren Beitrag leisten und sie wird sich weiterhin nicht nur aus eigenem Interesse, sondern aus Überzeugung für eine regelbasierte Ordnung einsetzen, für Frieden und Sicherheit, für Demokratie und offene Märkte.
Vor allem aber kann und muss die Schweiz – und das ist die Aufgabe jedes Staates, jeder Regierung – darum besorgt sein, ihr eigenes Haus in Ordnung halten. Ich möchte drei Punkte hervorheben:
Erstens: Wir haben unsere Demokratie selber in der Hand. Manchmal habe ich den Eindruck, es gehe fast etwas vergessen, wovon diese beste aller Staatsformen lebt: Von der Auseinandersetzung, vom Wettbewerb der Ideen, vom Aushalten einer Niederlage und vom Kompromiss. Wozu bräuchten wir Demokratie, wenn alle gleich wären oder gleich denken würden? Das Niedermachen des politischen Gegners, das Ausschalten anderer Meinungen gehören zum Werkzeugkasten von Autokraten, nicht von Demokraten.
Zweitens: Es braucht einen Rahmen, in dem sich Gesellschaft und die Wirtschaft möglichst frei entfalten können, damit Wohlstand entsteht. Dazu gehören Wettbewerb, offene Märkte, aber auch geordnete bilaterale Beziehungen zu unseren wichtigsten Handelspartnern, und damit natürlich auch zur EU und zu den USA. Von guten, stabilen Rahmenbedingungen hängen nicht nur unsere Arbeitsplätze und damit die Einkommen von vielen Familien ab, sondern auch die Einnahmen des Staats.
Und drittens, das hängt mit dem zweiten Punkt zusammen, können wir für finanzielle Stabilität und damit für Resilienz sorgen. Jede Sicherheit, ob militärische oder soziale, ist trügerisch, wenn sie auf einem dünnen finanziellen Fundament steht und schuldenfinanziert ist.
Geschätzte Damen und Herren
Bei all den Umwälzungen, die wir heute erleben, erachte ich die hohe Verschuldung gerade auch westlicher Staaten als eines der grössten Risiken. Der britische Historiker Harold James, der in den USA lehrt, machte kürzlich in einem Interview darauf aufmerksam, dass es in den 1930er Jahren nicht die damaligen Smoot-Hawley-Zölle der USA waren, die die Welt in eine Depression stürzten, sondern die Finanzkrise.
Historische Analogien sind immer heikel. Die Welt ist nicht mehr die gleiche wie 1945 oder 1989. Sie ist durch Globalisierung und Digitalisierung reicher, aber auch verletzlicher geworden. Und die USA sind wirtschaftlich für die restliche Welt weit bedeutender als zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs. Wir wissen nicht, welche Zölle die USA am Schluss welchen Ländern aufbürden werden. Die Absicht der USA aber ist klar: Sie wollen, Arbeitsplätze nach Amerika zurückholen und – wenn möglich – ihr Handelsbilanzdefizit verringern.
Wenn es die USA dabei auch schaffen, ihre Verschuldung zu reduzieren, muss das nicht unbedingt zum Schaden der Welt sein. Aber auch wenn die Welt heute eine andere ist als vor 80 Jahren: Ich bin davon überzeugt, dass es im Interesse der westlichen Staaten ist, ihre eigene liberale Ordnung aufrechtzuerhalten. Sie bleibt – zusammen mit einer nachhaltigen Finanzordnung – am besten geeignet, Sicherheit und Wohlstand für ihre Bevölkerung zu generieren.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich, den einen oder anderen Punkt im Gespräch noch vertiefen zu können.
Bundesrätin Karin Keller-Sutter

Präsidialjahr 2025
Karin Keller-Sutter amtet im Jahr 2025 als Bundespräsidentin.

Biografie
Bundesrätin Karin Keller-Sutter ist seit Januar 2023 Vorsteherin des Eidgenössischen Finanzdepartments EFD und ist seit 2019 im Bundesrat. Zuvor war sie Ständerätin des Kanton St. Gallen.

Autogrammkarte
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Interviews und Beiträge
Eine Auswahl an Interviews von Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter.

Reden
Reden von Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter im Wortlaut.




