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RedenVeröffentlicht am 10. November 2024

Von U-Booten, Telemachos und Demut

Kanzelrede von Karin Keller-Sutter, Vizepräsidentin des Bundesrats, zum Thema «Frauen-Tat»

Ich danke Herrn Pfarrer Johannes Block und der Reformierten Kirchgemeinde Fraumünster, dass ich heute von dieser Kanzel zu Ihnen sprechen darf.

Es ist allerdings keine leichte Aufgabe, die Sie mir gestellt haben, Herr Pfarrer!

Nicht etwa, weil ich mich als Katholikin in diesem reformierten Umfeld fremd fühlen würde. Die Reformation – als St. Gallerin denke ich natürlich immer auch an den dortigen Reformator Vadian – gehört zu den prägenden Epochen der Schweizer Geschichte. Sie ist darum auch Teil meiner historischen Identität.

Es ist auch nicht der Anlass, zu dem wir heute zusammenkommen, der meine Aufgabe schwierig macht. Im Gegenteil: Es fällt mir leicht, die Tat der Katharina von Zimmern vor 500 Jahren zu würdigen. Nach allem, was wir über sie wissen, war Katharina von Zimmern eine ausserordentlich selbständige, kluge und mutige Frau.

Von dieser Klugheit zeugt ihr Entscheid, das Fraumünster im Dezember 1524 an den Rat der Stadt Zürich zu übergeben. Damit hat sie vermutlich eine blutige Auseinandersetzung zwischen Anhängern der Reformation und des alten Glaubens verhindert. Es ist wichtig und richtig, dass Katharina von Zimmern in der Geschichte ein gebührender Platz eingeräumt wird.

Herausfordernd ist hingegen das Thema, das Sie mir gestellt haben, Herr Pfarrer: die «Frauen-Tat».

Ich habe mich gefragt: Was genau ist das – eine Frauen-Tat?

Klar, eine Frauen-Tat ist die Tat einer Frau. Aber das wäre zu trivial. Der Begriff geht viel weiter. Es geht um die Frage: Worin unterscheiden sich Taten von Frauen von jenen von Männern? Gibt es überhaupt einen Unterschied? Und wenn ja: Was macht diesen Unterschied aus?

Und was ist eigentlich eine «Tat»? Wir sprechen hier nicht von der Tat im strafrechtlichen Sinn. Obwohl auch das ein reizvolles Thema wäre! Denn gerade mit Blick auf die frühe Neuzeit können wir feststellen, dass Taten und Ansichten, die damals als verbrecherisch galten und für die man hart bestraft wurde, sich aus heutiger Perspektive als wegweisend erweisen. Denken Sie etwa an den italienischen Dominikanermönch und Dichter Giordano Bruno und seine weitgehend korrekten Thesen über das Universum, wonach Sterne kleine Sonnen mit eigenen Planeten wie die Erde seien. Er wurde – nicht nur, aber auch deswegen – auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Ich nehme also an, es geht generell um herausragende Taten. Das aber wirft wiederum die Frage auf: Worin unterscheidet sich eine solch herausragende Tat von den Hunderten von Entscheidungen, die jede und jeder von uns täglich und oft unbewusst fällt?

Wir alle unterscheiden zwischen wichtigen und unwichtigen Taten, zwischen bedeutsamen und eher bedeutungslosen Entscheidungen. Ohne diese Priorisierung wären wir überfordert von der schieren Menge an Ereignissen, die eine Entscheidung von uns erfordern.

Aber was kann uns die Gewissheit geben, dass wir uns bei dieser Triage nicht täuschen?

Wir müssen immer damit rechnen, dass das, was uns heute wichtig erscheint, kaum Wirkungsmacht entfalten wird; dass hingegen das vermeintlich Unwichtige den Lauf der Geschichte verändern könnte.

Die Geschichte ist voller Beispiele dafür. Ich nenne zwei.

Erstens: 1940 entwickelte Hedy Lamarr eine Funkfernsteuerung.

Lamarr war im Hauptberuf Schauspielerin, technische Tüfteleien waren ihr Hobby. Zum Mechanismus hinter der Funkfernsteuerung hatte sie sich durch Filmmusik inspirieren lassen, die über Lochstreifen synchronisiert wurde.

Lamarr war nicht nur Schauspielerin und Erfinderin, sie war vor allem auch eine erbitterte Gegnerin der Nazis. Ihre Erfindung bot sie folgerichtig der US-Navy an, da sie sich für Torpedos eignen könnte. Mit der Technik Lamarrs wären die Torpedos von der deutschen Marine nämlich kaum zu orten und zu stören gewesen.

Die US-Marine lehnte Lamarrs Erfindung jedoch ab.

Man kann sich lebhaft vorstellen, wie die Herren der Kriegsmarine über die tüftelnde Schauspielerin gewitzelt haben!

Die USA gewannen den Krieg auch so. Jahre zogen ins Land, ohne, dass Lamarrs Erfindung irgendwo Anwendung fand.

Heute wissen wir: Die US-Navy hätte sich besser etwas schneller und intensiver mit Lamarrs Erfindung auseinandergesetzt. Sie entpuppte sich nämlich als Zukunftstechnologie par excellence. Ohne das sogenannte Frequenzsprungverfahren, das Hedy Lamarr damals für Torpedos entwickelt hatte, gäbe es heute keine Handys, kein WLAN und kein Bluetooth. Unsere Welt wäre nicht unsere Welt.

Eine vermeintlich unbedeutende Tat erwies sich im Nachhinein also als bedeutend.

Beim zweiten Beispiel verhält es sich genau umgekehrt.

Unter allergrösstem Pomp unterzeichneten am 27. August 1928 in Paris zunächst 11 Staaten den Briand-Kellogg-Pakt. Das Vertragswerk wollte nicht weniger, als den Krieg abschaffen. Bis 1939 hatten 63 Staaten es ratifiziert, darunter auch das Deutsche Reich.

Den damaligen Zeitgenossen – die männliche Form ist bewusst gewählt – erschien dieser Vertrag wirkungsmächtig. Sie waren überzeugt, dass ihnen ein grosser Wurf gelungen sei. Sie glaubten, der Geschichte der Menschheit damit einen anderen, einen besseren Verlauf geben zu können. Der Briand-Kellogg-Pakt galt zu jener Zeit als historische Grosstat.

Heute wissen wir, dass er die beabsichtigte Wirkung nicht entfalten konnte. Statt Frieden kam Krieg.

Eine mutmasslich bedeutende Tat, ein vermeintlicher Meilenstein der Menschheit, erwies sich als Trugschluss – zumindest hatte sie nicht die Bedeutung, die beabsichtigt war.

Immerhin: In den Nürnberger Prozessen nach dem 2. Weltkrieg bildete der objektiv wirkungslose Briand-Kellogg-Pakt dann doch noch eine wichtige Grundlage für die Anklage.

Unterschätzt, überschätzt, wirkungslos oder doch wirkungsmächtig? Torpedosteuerung oder ewiger Friede?

Es ist nicht einfach mit diesen vermeintlich historischen Taten.

Noch schwieriger wird es bei der Einschätzung derjenigen, die sie vollbringen.

Ich bin, wie Sie vielleicht wissen, eine überzeugte Anhängerin der Benediktinerregel. Die Schrift lehrt uns Vieles – vor allem möchte ich das Kapitel über die Demut hervorheben.

Ich zitiere:

«Brüder, die Heilige Schrift ruft uns zu und sagt: Jeder, der sich selbst überhöht, wird erniedrigt werden und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.

Wenn sie das sagt, zeigt sie uns, dass jede Selbsterhöhung vom Stolz herkommt;

Davor hütet sich der Prophet, wie seine Worte verraten: Herr, mein Herz ist nicht stolz und meine Augen sind nicht überheblich; ich wandle nicht in Dingen, die mir zu gross und zu wunderbar sind.»

Soweit der Heilige Benedikt.

Wir sollten uns also davor hüten, unsere eigenen Taten zu überschätzen und uns dafür zu rühmen.

Vielleicht überlassen wir die Würdigung besser der Geschichtsschreibung.

Gerechtigkeit kann man – zumal als Frau – dabei allerdings nicht erwarten.

Die Geschichtsschreibung war über Jahrhunderte parteiisch. Frauen ignorierte sie oft, oder stellte sie bestenfalls als Statistinnen in den Schatten der Männer, die ihre Weitsichtigkeit – ob angemessen oder nicht – nur zu gerne selbst würdigten.

Auch die Geschichtsschreibung ist ein Kind ihrer Zeit und Kultur.

Die britische Althistorikerin Mary Beard hat die Verdrängung der Frauen aus dem öffentlichen Raum in ihrem Essay «Die öffentliche Stimme von Frauen» in eine Tradition des griechischen Altertums gestellt.

Stellvertretend für die Stimmungslage zitiert sie aus Homers «Odyssee». In diesem Epos gibt Telemachos, der Sohn von Odysseus und Penelope, den Tarif durch:

«Du aber», sagt der Jüngling zu seiner gebildeten und erfahrenen Mutter Penelope, «Du aber gehe ins Haus und besorge die eigenen Geschäfte, / Spindel und Webstuhl … Die Rede ist Sache der Männer.»

Frauen, stellte Beard fest, seien als öffentlich wirkende Personen nur dann geduldet gewesen, wenn sie eigentlich keine Frauen waren. Wie die Göttin Athene beispielsweise, die nach griechischer Vorstellung alles Mögliche war, aber bestimmt keine richtige Frau. So wurde sie in der Mythologie zwar als Kriegerin dargestellt, in der realen Welt blieb der Kampf jedoch den Männern vorbehalten.

Dieses griechische Erbe hat unsere Zivilisation über mehr als zweitausend Jahre hinweg geprägt. Frauen hatten ausser Haus im Grunde nichts zu sagen – sie waren von den politischen Entscheidungen systematisch ausgeschlossen. Sagten sie dennoch etwas oder spielten sie tatsächlich eine gesellschaftlich oder politisch wichtige Rolle, dann wurde das entweder relativiert oder in der – männlich geprägten – Geschichtsschreibung regelmässig ignoriert.

Gott sei Dank, hier darf ich das so sagen, hat sich – zumindest in unseren Breitengraden – in den letzten Jahrzehnten auch vieles, ich würde sogar sagen, sehr vieles verändert.

Dank dem Einsatz vieler Frauen – und auch einiger Männer –, die sich – und für alle nachfolgenden Frauen – die Anerkennung ihrer Ebenbürtigkeit und Gleichwertigkeit hart erkämpft haben.

Mittlerweile nimmt man das manchmal für selbstverständlich. Man vergisst nicht nur, was erreicht wurde, man vergisst auch gerne, dass dieser Kampf für die Gleichwertigkeit nicht einfach von Frauen für Frauen gefochten wurde, nur weil sie Frauen waren.

Frausein ist kein Programm. Und es ist noch nicht allzu lange her, da schien es auch nützlich, es nicht allzu sehr zur Schau zu stellen. Margaret Thatcher beispielweise nahm Sprechunterricht, um sich eine tiefere Stimmlage anzugewöhnen. Zu viel Feminität, so der Rat ihrer Berater, sei der Wahrnehmung als kompetente und entschlossene Politikerin abträglich.

Vergessen wir aber nicht: Margaret Thatcher bot als Politikerin natürlich auch Reibungsfläche. Und sie hatte als solche nicht nur Gegner, sondern auch viele Gegnerinnen.

Es ist ein verbreiteter Irrglaube, Frauen müssten Frauen wegen ihres Geschlechts unterstützen. Frauen sind auch kompetitiv – und zum Glück sind sie das! Wer Frauen aufs Frau-Sein und aufs Solidarisch-Sein verpflichten will, wer ihnen einen vermeintlich «natürlichen» weiblichen politischen Standpunkt verordnen will, der verhält sich nicht viel anders als Telemachos, der seiner eigenen Mutter Penelope das öffentliche Reden verbot.

Besiegt ist der Telemachos erst, wenn man anerkennt, dass Frauen – genauso wie Männer – verschiedene Werthaltungen und politische Positionen vertreten dürfen.

Womit wir zurück bei Margaret Thatcher wären. Es spricht für die typisch britische (Selbst-) Ironie dieser herausragenden Politikerin, dass sie nicht nur mit der ihr zugeschriebenen Figur der «Iron Lady» rhetorisch gespielt, sondern ausgerechnet ein weibliches Accessoire zum zentralen Symbol erhoben und förmlich zelebriert hat: ihre Handtasche.

Noch heute gibt es in Grossbritannien darum einen spezifischen Begriff für resolute Machtausübung: to handbag.

Keine Frage: Bei Thatcher finden wir sie, diese Frauen-Tat.

Unabhängig von politischen Standpunkten besteht sie in der Selbstverständlichkeit, mit der Margaret Thatcher zielstrebig eine politische Karriere verfolgte und schliesslich machtbewusst regierte.

Solche Frauen-Taten finden Sie auch hier ganz in der Nähe. Ich denke etwa an den Mut einer Elisabeth Kopp und ihre Rolle als erste Bundesrätin unseres Landes.

Vielleicht wäre es das, was heute eine Frauen-Tat ausmacht:

Mit Taten zu demonstrieren, dass wir uns von unserem griechischen Erbe emanzipiert haben, zu demonstrieren, was der selbstverständliche Platz der Frauen ist: mitten in der Gesellschaft, gleichberechtigt, frei und unabhängig.

In diesem Sinne haben mich die Taten von Frauen wie Margaret Thatcher und Elisabeth Kopp stark geprägt.

Ich bin als junge Frau in meiner Heimatstadt Wil in die Politik eingestiegen. Das bürgerliche politische Establishment war damals durchgehend männlich. Man musste vorzugsweise Mann sein, um als selbständig denkende Person wahrgenommen zu werden.

Sie können sich vorstellen, dass es für eine 28-jährige bürgerliche Frau nicht einfach war, sich in einem Umfeld durchzusetzen, das an einen Politiker Erwartungen stellte, die ich gar nicht erfüllen konnte: Mann, Offizier, Unternehmer.

Doch dieses kompetitive Umfeld hat mich auch angespornt. Ich wusste, ich muss besser sein. Und ich habe gelernt, meine Positionen auch gegen Widerspruch und Widerstand durchzufechten. Widerspruch und Widerstand halten fit. Sie sind aus einer freiheitlichen Demokratie sowieso nicht wegzudenken.

Das war also nicht die schlechteste Lebensschule. Ich habe auch schnell gelernt, dass nicht immer alles fair ist. Dass man nicht nur mit Rückschlägen, sondern manchmal auch mit Rückenschüssen und groben Fouls rechnen muss. Kurz, ich habe gelernt, einzustecken. Als ich mit nur 36 Jahren als Kandidatin für die St. Galler Regierung nominiert wurde, gab es Stimmen, die meinten, das müsse ein Mann und Offizier machen.

Als ich nach meiner Wahl in den Ständerat aus der St. Galler Regierung ausgeschieden bin, sagte mir eine dieser Stimmen:

«Du warst der beste Regierungsrat. Ich habe mich getäuscht.»

Er sagte genau das: «Regierungsrat» - und er meinte es auch genauso.

Katharina von Zimmern, Hedy Lamarr, Margaret Thatcher, Elisabeth Kopp - sie haben vermutlich Ähnliches erlebt.

Und manchmal hätte man, ich gebe es zu, grösste Lust, ein bisschen zu «handbagen» oder einen Lamarrschen Torpedo abzufeuern, wenigstens verbal.

Es gerade nicht zu tun, ist vielleicht keine Frauen-, aber meistens eine gute Tat.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

Bundesrätin Karin Keller-Sutter

Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter während der ersten offiziellen Bundesratssitzung des Jahres 2025

Präsidialjahr 2025

Karin Keller-Sutter amtet im Jahr 2025 als Bundespräsidentin.

Bundesrätin Karin Keller-Sutter zu Beginn der Debatte im Nationalrat

Biografie

Bundesrätin Karin Keller-Sutter ist seit Januar 2023 Vorsteherin des Eidgenössischen Finanzdepartments EFD und ist seit 2019 im Bundesrat. Zuvor war sie Ständerätin des Kanton St. Gallen.

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Bundesrätin Karin Keller-Sutter diskutiert während einer Podiumsdiskussion mit Journalist Sebastian Ramspeck,

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Eine Auswahl an Interviews von Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter.

Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter spricht an der Fruehjahrssession der Eidgenössischen Räte

Reden

Reden von Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter im Wortlaut.