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RedenVeröffentlicht am 1. August 2025

Bauen wir auf die Stärken unserer Schweiz: Solidarität, Subsidiarität, Eigenverantwortung

1.-August-Feier 2025: Ansprache von Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter

Wie sagen Sie dem ersten Stück des Brots, also dem Anschnitt, in Ihrer Mundart: Aahau? Aaschnitt? Bödeli? Bürzi? Chappe? Fux? Göbu? Gupf? Möörggu? Rand? Zipfel? Ich bin mir sicher: Wenn Sie alle Ihre Version nennen würden, wären die Antworten fast so zahlreich wie die Anzahl Personen hier auf dem Rütli. Das Rahmenprogramm dieser Bundesfeier ist den Schweizer Dialekten gewidmet. Es zeigt exemplarisch, was unser Land nach wie vor ausmacht: eine unglaubliche Vielfalt auf kleinstem Raum.

Sehr gut kommt das in der kleinsten unserer vier Landessprachen zum Ausdruck, dem Rätoromanischen. Nur ein halbes Prozent der Bevölkerung oder knapp 40'000 Personen geben Rätoromanisch als ihre Hauptsprache an. Rätoromanisch ist aber natürlich nicht gleich Rätoromanisch! Noch heute wird es in fünf Idiomen mit dutzenden von Ortsdialekten gesprochen. Der Versuch, eine einheitliche Standardsprache zu schaffen – zum Beispiel für den Schulunterricht –, ist grandios am geballten Widerstand der lokalen Idiome gescheitert.

Da könnte einem der Turmbau zu Babel in den Sinn kommen. Die Geschichte von Menschen, die sich nicht mehr verstehen, weil sie nicht mehr die gleiche Sprache sprechen. Tatsächlich wäre es ein Leichtes, das Trennende in unserem Land zu betonen, dass sich Stadt und Land angeblich nicht mehr verstehen oder dass Westschweizer und Deutschschweizerinnen aneinander vorbeireden. Auch der Zeitgeist setzt auf Polarisierung, auf Abgrenzung und Unterschiede. Da wäre es sogar verlockend, das in den Mittelpunkt zu setzen, was uns unterscheidet oder gar trennt. Aber, Sie ahnen es: Ich kann dieser Verlockung überhaupt nichts abgewinnen.

Schon gar nicht am heutigen Tag, dem Nationalfeiertag. Da will ich und sollten wir alle das Verbindende betonen, das Gemeinsame. Genau dafür wurde der 1. August im Jahr 1891 im noch jungen Bundesstaat auch ins Leben gerufen.

Was uns zum Beispiel verbindet, ist die Solidarität über die Kantons- und Sprachgrenzen hinweg. Erlebt haben wir das im Mai beim verheerenden Bergsturz in Blatten. Nicht nur gab es rekordhohe Spendeneinnahmen bei der Glückskette, sondern auch eine beeindruckende Anteilnahme quer durch das Land und seine Bevölkerung. Wenn es darauf ankommt, stehen wir zusammen und helfen einander. Gut zum Ausdruck kommt diese Solidarität aber auch in einem unserer wichtigsten Sozialwerke, der AHV. Sie feiert in diesem Jahr einen runden Geburtstag: Vor 100 Jahren, am 6. Dezember 1925, haben Volk und Stände den Verfassungsartikel über die AHV angenommen.

Die ersten Renten flossen dann zwar erst 1948, aber der Verfassungsartikel schuf die Grundlage für diesen zentralen und solidarisch finanzierten Pfeiler unserer Altersvorsorge. Auch bei internationalen Ereignissen ist die Solidarität der Schweizer Bevölkerung immer wieder beeindruckend. Ich denke an das Frühjahr 2022, als nach dem russischen Angriff auf die Ukraine tausende Flüchtlinge auf Schutz angewiesen waren. Die Solidarität hat in der Schweiz eine lange Tradition – idealtypisch verkörpert von Guillaume Henri Dufour, dessen 150. Todestag wir vor zwei Wochen gedenken konnten.

Dufour war nicht nur General im Sonderbundskrieg von 1847, sondern auch Mitbegründer und erster Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Darüber hinaus organisierte er Hilfspakete für die Opfer von Katastrophen – zum Beispiel nach den Überschwemmungen im Wallis 1860, nach dem verheerenden Stadtbrand in Glarus 1861 oder im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71.

Liebe Anwesende

Ich habe die zahlreichen Dialekte in unserem Land angesprochen. Die unterschiedlichen Sprachen und Idiome sind aber nur ein Ausdruck der grossen Vielfalt in der Schweiz. Darüber hinaus gibt es einen fast ebenso grossen Reichtum an kulturellen, gesellschaftlichen und regionalen Traditionen. Diese Vielfalt gedeiht auf dem Boden dessen, was wir etwas bürokratisch als «Prinzip der Subsidiarität» bezeichnen. Dieses Prinzip besagt – etwas vereinfacht gesagt –, dass wir Probleme immer auf der untersten möglichen Ebene lösen und erst nach oben delegieren, wenn es unten nicht mehr funktioniert und oben eine bessere Lösung möglich ist.

Nebst der Solidarität ist die Subsidiarität ein zweites wichtiges Element, das uns Schweizerinnen und Schweizer verbindet. Wir leben das Prinzip der Subsidiarität sowohl im privaten als auch im öffentlichen Leben. Privat bedeutet es, dass wir nicht sofort nach dem Staat rufen, wenn wir das Zusammenleben in der Familie, in der Nachbarschaft oder im Quartier gestalten. Wir organisieren uns zunächst selbst – als Individuen, als Familien oder als Gemeinschaft. Wir machen in Vereinen mit und engagieren uns in der Freiwilligenarbeit.

Dabei geht es natürlich auch um das gesellige Zusammensein im Turn- oder Musikverein. Genauso sehr geht es aber auch darum, einander zu unterstützen, für diejenigen da zu sein, denen es gerade nicht so gut geht – im Wissen, dass man selber auch einmal froh über die Unterstützung der Mitmenschen sein wird. Politisch kommt das Prinzip der Subsidiarität im föderalistischen Staatsaufbau und Staatsverständnis zum Ausdruck. Was in der Gemeinde erledigt werden kann, soll nicht an den Kanton delegiert werden; und was der Kanton selber regeln kann, soll nicht der Bund übernehmen.

Mit dem Föderalismus stellen wir sicher, dass Gemeinden und Kantone unterschiedlichen Bedürfnissen und Erwartungen ihrer Bevölkerung Rechnung tragen können. So bleibt der Staat bürgernah und effizient – ganz nach dem Motto «Wer zahlt, befiehlt; wer befiehlt, zahlt». Wir müssen dem Föderalismus Sorge tragen. Die Tendenz zum Zentralismus ist nämlich unverkennbar – getrieben auch von Krisen wie der Pandemie. Es bedauerlich aber wahr, dass heute rascher und reflexhafter nach dem Bund gerufen wird, als noch vor ein paar Jahren. Die Schweizerinnen und Schweizer wollen aber nicht in einem Zentralstaat leben, in dem Bundesbern für jede Region, jeden Kanton und jede Gemeinde diktiert und bezahlt. Das wäre nicht mehr unsere Schweiz.

Und deshalb ist es wichtig, die Aufgabenteilung zwischen unseren Staatsebenen immer wieder neu zu justieren. Damit das gelingt, sind zwei Dinge wichtig: Die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, statt einfach nach oben zu delegieren. Und die Bereitschaft, für den eigenen Bereich auch finanziell geradezustehen. Das ist die Essenz der Subsidiarität und des Föderalismus’. Zugegeben: Verantwortung selber zu übernehmen, ist nicht sehr bequem. Und andere bezahlen zu lassen, statt selber zum Rechten zu schauen, ist eine stetigen Verlockung. Aber Bequemlichkeit ist kein Erfolgsrezept‘.

Damit sind wir beim Gegenteil der Bequemlichkeit angelangt, der Eigenverantwortung. Das Prinzip der Eigenverantwortung nenne ich nach der Solidarität und der Subsidiarität darum als drittes Element, das die Menschen in diesem Land verbindet. Für uns Bürgerinnen und Bürger heisst Eigenverantwortung – ich habe es bereits gesagt –, dass wir Probleme zuerst selber lösen, bevor wir um Unterstützung der öffentlichen Hand nachsuchen. Und es bedeutet selbstverständlich auch, dass wir uns der Folgen unseres Handelns bewusst sind und die Verantwortung dafür selbst tragen. Entscheid und Haftung gehören zusammen. Das gilt für Unternehmen wie Private.

Wer Risiken eingeht und scheitert, kann nicht erwarten, dass die Allgemeinheit die Kosten dafür übernimmt. Politisch heisst Eigenverantwortung auch, dass wir dem Staat – und damit den Steuerzahlenden – nur diejenigen Aufgaben übertragen, die Private nicht ebenso gut oder gar noch besser erfüllen können. Damit schliesst sich der Kreis zum Prinzip der Subsidiarität.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Anwesende

Solidarität, Subsidiarität und Eigenverantwortung sind Werte, die uns einen – auch und gerade in turbulenten Zeiten, wie wir sie im Moment erleben. In den Nachrichten dominieren die negativen Meldungen. Wir erfahren von Kriegen, von Handelsstreitigkeiten, von zunehmender Demokratieskepsis und von hoch verschuldeten Staaten. Verunsicherung und Zukunftsangst nehmen zu – auch bei uns in der Schweiz.

Tatsächlich stehen wir vor grossen Herausforderungen. Ich bin aber zuversichtlich, dass die Ausgangslage zu deren Bewältigung in der Schweiz besser ist als in anderen europäischen Staaten. Weil die Schweiz aus einer guten Position immer noch handlungsfähig ist und wir vieles selbst in der Hand haben.

Wir können

  • unsere funktionierenden demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen pflegen und bewahren

Wir können

  • dem Trend zur Polarisierung widerstehen und weiterhin konsensorientierte und mehrheitsfähige Lösungen finden

Wir können

  • unseren Haushalt in Ordnung halten und damit stabile Finanzen als wesentlichen Standortfaktor gewährleisten

Wir können

  • das Wünschbare vom Notwendigen trennen und damit Raum schaffen für die Finanzierung der militärischen und sozialen Sicherheit

Wir können

  • eine Wirtschaftspolitik gestalten, die im Innern Raum lässt für Innovation und unternehmerische Entfaltung und im Äussern den Zugang zu den wichtigsten Märkten sicherstellt

Mit anderen Worten: Wir sind aufgerufen, auf unsere Stärken zu setzen. Dazu müssen wir unser eigenes Haus in Ordnung halten. Wir müssen dort handeln, wo wir es eigenständig tun können. Und wir dürfen mit Fug und Recht von uns behaupten, dass wir verlässlich sind. Wenn die Schweiz eine Verpflichtung eingeht, steht sie zu ihrem Wort. Diese Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der Schweiz eine grosse Stärke. Gerade in diesen unsicheren Zeiten ist sie die neue Währung.

Geschätzte Anwesende

Ich habe am Anfang den Turmbau zu Babel erwähnt. In dieser biblischen Geschichte war es ja Gott, der die Sprachen verwirrte und damit die Menschen bestrafte, die zu hoch hinauswollten. In der Schweiz ist es bisher zum Glück nicht so weit gekommen. Auch wenn wir unterschiedliche Sprachen sprechen, war die Geschichte unseres Landes durch das Bemühen um gegenseitiges Verständnis geprägt. Dieses gegenseitige Verständnis gehört ebenfalls zu dem, was uns verbindet und das wir heute in der ganzen Schweiz feiern.

Am 1. August kommen wir zusammen, um unser Land zu feiern, um uns auf unsere Stärken und unsere Gemeinsamkeiten zu besinnen. Dabei dürfen wir mit Stolz auf unsere Geschichte, auf das Erreichte und unsere gemeinsame Heimat schauen.

Le 1er août, nous nous réunissons pour célébrer notre pays, pour nous rappeler ce qui nous rend forts et ce qui nous unit. Nous pouvons à cette occasion regarder avec fierté notre histoire, ce que nous avons accompli, et notre patrie commune.

Il 1° agosto ci riuniamo per celebrare il nostro Paese, per riflettere sui valori che ci rendono forti e su ciò che ci unisce. In questa occasione, possiamo guardare con orgoglio alla nostra storia, ai traguardi raggiunti e alla patria che ci accomuna.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen noch einen schönen Nationalfeiertag.

Bundesrätin Karin Keller-Sutter

Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter während der ersten offiziellen Bundesratssitzung des Jahres 2025

Präsidialjahr 2025

Karin Keller-Sutter amtet im Jahr 2025 als Bundespräsidentin.

Bundesrätin Karin Keller-Sutter zu Beginn der Debatte im Nationalrat

Biografie

Bundesrätin Karin Keller-Sutter ist seit Januar 2023 Vorsteherin des Eidgenössischen Finanzdepartments EFD und ist seit 2019 im Bundesrat. Zuvor war sie Ständerätin des Kanton St. Gallen.

Autogrammkarte

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Bundesrätin Karin Keller-Sutter diskutiert während einer Podiumsdiskussion mit Journalist Sebastian Ramspeck,

Interviews und Beiträge

Eine Auswahl an Interviews von Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter.

Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter spricht an der Fruehjahrssession der Eidgenössischen Räte

Reden

Reden von Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter im Wortlaut.