"Vom Steuer- zum Subventionswettbewerb"

Rede an der Universität Zürich von 26. April 2024

Geschätzte Damen und Herren

Vielen Dank für den freundlichen Empfang!

Ich beginne mit einer Zahl. Fünfzigtausend Millionen. Es ist zum Glück nicht der Bonus eines Schweizer CEO! Nein. Fünfzigtausend Millionen, das entspricht dem aktuellen Schuldendienst Frankreichs. 50 Milliarden Euro. Soviel muss der französische Staat jährlich ausgeben, um seine Schulden zu finanzieren, die inzwischen auf rund 110 Prozent seiner jährlichen Wirtschaftsleistung angewachsen sind. Es ist eine gewaltige Summe. In der Schweiz könnte man damit ein Jahr lang die gesamte AHV finanzieren. Oder das Armeebudget von heute auf morgen verneunfachen. Das ist natürlich nicht 1-zu-1 vergleichbar. Aber auch in Frankreich entsprechen diese Schuldzinsen fast den gesamten Militärausgaben.

Und Frankreich ist bei weitem nicht das einzige Land, das mit einer hohen Verschuldung kämpft. Denken Sie an die USA, an Japan, Grossbritannien, Italien und Spanien – alle haben eine Schuldenquote, die das Bruttoinlandprodukt übersteigt. In Deutschland ist sie zwar tiefer, aber auch Deutschland ist, wie Sie alle wissen, in relativ grossen wirtschaftlichen und finanziellen Nöten. Auch in der Schweiz zeichnen sich in den nächsten Jahren hohe Defizite ab, die wir bereinigen müssen. Die Verschuldung hingegen ist eine der tiefsten der Welt.

Und damit bin ich beim Thema. Der erste Teil des Titels der heutigen Veranstaltung lautet: «Der Wirtschaftsstandort Schweiz im Fokus von OECD und EU». Klar. Alle haben die Schweiz, dieses kleine Alpenland, irgendwie gern. Man bewundert vielleicht sogar seine politische Stabilität, das funktionierende Zusammenleben von vier Sprachgemeinschaften.

Aber die Schweiz stört auch. Wie kann es sein, dass ein so kleines Land ohne namhafte natürliche Ressourcen wirtschaftlich so erfolgreich ist, dass es im Konzert der weltweit 20 grössten Volkswirtschaften mitspielen kann? Man erinnert sich an einen früheren deutschen Finanzminister, der einst der Schweiz im Steuerstreit mit der Peitsche drohte! Und als das Bankgeheimnis dann fiel, freute er sich so sehr, dass er sich in eine Metapher über Indianer und die Kavallerie verstieg.

Dem wirtschaftlichen Erfolg der Schweiz hat das Ende des Bankgeheimnisses allerdings keinen Abbruch getan. Im Gegenteil: Es hat sie gestärkt. Ich möchte die Schweiz nicht idealisieren. Sie hatte manchmal auch Glück. Und manchmal hat sie sich auch opportunistisch durchgewurstelt. Aber welcher Staat kann von sich etwas anderes behaupten? Ich bin jedenfalls davon überzeugt, dass die Schweiz ihren Erfolg zuallererst ihrer liberalen demokratischen Grundverfassung zu verdanken hat. Ich komme später darauf zurück.

Zuerst aber zurück zu Peer Steinbrück, dem früheren deutschen Finanzminister. Er zückte die Peitsche im Herbst 2008. Damals erschütterte gerade die Finanzkrise die Welt und der Druck der OECD auf die Schweiz und andere steuergünstige Länder erreichte ihren Höhepunkt. Das war kein Zufall. Und das verheisst nichts Gutes für die nähere Zukunft. Die finanziellen Nöte vieler Staaten, die ich eingangs erwähnt habe, fallen in eine Zeit hoher geopolitischer und geoökonomischer Instabilität.

Sie fallen in eine Zeit, in der die Staaten nicht weniger, sondern mehr Geld brauchen, um den Kampf der Ukraine gegen Russland zu unterstützen, um in die Landesverteidigung und in den Klimaschutz zu investieren. Und wenn grosse Staaten auf der Suche nach Einnahmen sind, wird das auch den Bestrebungen auf internationaler Ebene weiter Auftrieb geben, den Steuerwettbewerb zu begrenzen.

Das zeigte sich zuletzt im Februar, als ich an einem Treffen der G20 in Sao Paulo in Brasilien teilnahm. Noch ist zwar die zweite Säule des OECD-Steuerprojekts – die Mindestbesteuerung von grossen, international tätigen Unternehmen – nicht weltweit umgesetzt, und noch fehlt auch eine Einigung bei der ersten Säule des Projekts, der sogenannten Marktstaatbesteuerung. Dennoch hat Brasilien als Gastgeber des Treffens bereits die Idee einer neuen, dritten Säule ins Spiel gebracht: Eine weltweite Mindestbesteuerung reicher Personen. Es dürfte nicht erstaunen, dass sich mein französischer Amtskollege zum brasilianischen Vorstoss umgehend mit den Worten zitieren liess: «We want Europe to take this idea of minimum taxation of individuals forward as quickly as possible, and France will be at the forefront.»

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich schätze meinen französischen Amtskollegen ausserordentlich und wir arbeiten sehr konstruktiv zusammen! Ich möchte damit nur sagen: Auch wenn dieses neue Projekt noch in den Kinderschuhen steckt und nicht alle ganz so begeistert reagiert haben wie Frankreich – der Druck wird bleiben, vielleicht sogar zunehmen. Die Frage ist also: Was kann und soll die Antwort der Schweiz sein?

Die Geschichte des Bankgeheimnisses lehrt uns, dass wir nichts gewinnen, wenn wir den Kopf in den Sand stecken. Ich habe es kürzlich in einem Vorwort für die Zeitschrift des «Archivs für schweizerisches Abgaberecht» geschrieben: In einer idealen Welt gäbe es keine Mindestbesteuerung. Aber wir müssen uns nicht mit einer idealen Welt, sondern mit der Realität auseinandersetzen. Und diese endet bekanntlich nicht an der Schweizer Grenze.

Das war auch der Ansatz der Schweiz beim OECD-Steuerprojekt. Sie hat nicht auf stur geschaltet, sondern sich von Beginn an konstruktiv an den Diskussionen beteiligt, um ihre Anliegen als kleine, aber offene und international stark vernetzte Volkswirtschaft bestmöglich einzubringen. Und wir werden das auch bei den weiteren Diskussionen tun.

Das ist aber nur der erste Teil der Antwort. Der zweite Teil hat mit Hausaufgaben zu tun. Hausaufgaben sind zwar offenbar nicht mehr so in Mode, aber es geht genau darum: Zuhause eigenständig erledigen, was nötig ist, um vorwärts zu kommen. Und damit komme ich auch zum zweiten Teil des Titels der heutigen Veranstaltung, zur Frage: «Vom Steuer- zum Subventionswettbewerb?»

Es ist so: Wenn der Standortwettbewerb über die Steuern eingeschränkt wird, wird er sich zwangsläufig auf andere Ebenen verlagern. Grosse, mächtige Staaten sind sich zwar einig, wenn es darum geht, kleine, steuergünstige Staaten unter Druck zu setzen. Aber das heisst nicht, dass sie sich gegenseitig etwas schenken. Nehmen wir die milliardenschweren Subventionsprogramme der USA und der EU, den sogenannten Inflation Reduction Act und den Green Deal.

Sie sind zwar keine Folge des OECD-Steuerprojekts – die USA setzen die OECD-Mindestbesteuerung, nach der sie selber gerufen hatten, ja nicht einmal um! Aber sie zeigen, dass Industriepolitik mit protektionistischen Elementen auch in liberalen Staaten wieder salonfähig geworden ist. Das dürfte sich auch bei einem Regierungswechsel in den USA nicht ändern.

Es sind aber nicht nur Regierungen, die diese Entwicklung befördern. Es ist vermehrt auch die Wirtschaft selber, die in Krisenzeiten die schützende und unterstützende Hand des Staats sucht. Neu ist das nicht. Vor über 80 Jahren hat der international renommierte Ostschweizer Ökonom Emil Küng in einem Beitrag für die Zeitschrift «Neue Schweizer Rundschau» den zunehmenden Interventionismus der Schweiz beschrieben und dabei festgestellt:

«Nicht nur die von der liberalen Marktwirtschaft stiefmütterlich behandelten sozialen Schichten aber wandten sich an den Staat um Hilfe und Sicherung, sondern — und darin liegt ein wesentliches Moment der neuzeitlichen Entwicklung — auch jene, die von ihr eigentlich begünstigt wurden. Sobald es einem Wirtschaftszweig heute schlecht geht, erschallt der Ruf um Unterstützung, die dann vom Staat in der Regel auch gewährt wird (…).»

Das waren natürlich andere Zeiten. Aber es kommt uns spätestens seit der Corona-Pandemie bekannt vor. Falls jemand von Economiesuisse im Saal ist: Bitte kurz weghören! Sie hört es nämlich nicht gern, wenn ich dieses Beispiel nehme. Aber es war für mich ein Alarmzeichen. Als im Sommer 2022 die Energiepreise als Folge des Kriegs in der Ukraine stark anstiegen, kam als erstes der Ruf von Economiesuisse, der Staat müsse den gebeutelten Unternehmen mit Überbrückungskrediten unter die Arme greifen. Anders als in der Schilderung von Emil Küng hat der Staat diese Hilfe nicht gewährt. Es wäre wirtschaftlich auch nicht nachhaltig gewesen und – wie sich später zeigte – auch nicht nötig. Ich glaube übrigens, auch Economiesuisse ist damals über sich selber etwas erschrocken.

Natürlich: Nicht jede staatliche Unterstützung ist des Teufels. Aber sie muss zumindest einem übergeordneten Ziel dienen, das anders nicht erreicht werden kann. Tut sie das nicht, werden ineffiziente Strukturen zementiert, Innovationen behindert und Steuergelder verschwendet. Die Schweiz tut jedenfalls gut daran, nicht in den Subventions-Wettlauf einzusteigen. Es wäre dabei nicht viel zu gewinnen - es sei denn, man ist bereit, immer tiefer und tiefer in die Tasche zu greifen. So hat ein Schweizer Solarzellenhersteller Deutschland unverhohlen damit gedroht, seine Produktion in die USA zu verlagern, wenn er nicht mehr Staatshilfe erhalten sollte. Das Unternehmen hat notabene auch schon Beilhilfen von Deutschland bezogen. In den USA lockt nun aber offenbar ein Zustupf von mehreren Hundert Millionen. Schlagzeilen anderer Art machte jüngst ein deutscher Motorsägen-Hersteller, der auch in der Schweiz produziert. Allerdings nicht, weil er auf der Suche nach Subventionen ist, sondern nach guten Rahmenbedingungen. Und er sieht diese – trotz den hohen Löhnen – derzeit eher in der Schweiz gegeben als in Deutschland.

Das Beispiel zeigt: Wir haben andere Trümpfe. Wir haben weiterhin ein gutes Steuerklima. Wir haben einen vergleichsweise liberalen Arbeitsmarkt, gut ausgebildete Arbeitskräfte und eine aussergewöhnlich hohe politische und finanzielle Stabilität. Es ist nicht nur an der Regierung, diese Trümpfe zu erhalten. Es braucht in einer liberalen demokratischen Gesellschaft den Willen aller, ihren Beitrag zu leisten.

«Leisten» ist das Stichwort. Leider scheint es wie die Hausaufgaben etwas ausser Mode geraten zu sein. Der Wert von Leistung wird heute weniger geachtet. Ich bin mir aber sicher, dass der Wille zur Leistung bei vielen hier im Saal, aber auch draussen in der Schweiz, bei Jüngeren und Älteren, bei KMU und grossen Unternehmen nach wie vor da ist. Und ich möchte hier auch nicht in eine Kulturkritik abschweifen. Das Schöne ist ja, dass die Löhne in der Schweiz vergleichsweise so hoch sind, dass es sich viele leisten können, weniger zu arbeiten.

Aber wir sollten nicht vergessen, warum wir an diesen Punkt gelangt sind. Durch Leistung eben. Durch den Willen, sein Leben selber zu meistern, ohne staatliche Unterstützung. Es ist auch ein Wille zur Freiheit. Ich habe es zu Beginn erwähnt: Entscheidend für den Erfolg der Schweiz ist die liberale demokratische Grundverfassung unseres Staates. Und ich bleibe davon überzeugt, dass diese Grundverfassung den allermeisten Menschen in diesem Land nach wie vor am Herzen liegt. Das stimmt mich zuversichtlich.

Als Finanzministerin möchte ich aber auch nochmals die grosse Bedeutung einer nachhaltigen Finanzpolitik betonen. Wenn eine Schuldenspirale erst einmal in Gang gekommen ist, ist es sehr schwer und schmerzhaft, sie wieder zu durchbrechen. Diese Erfahrung hatte auch die Schweiz gemacht vor über 20 Jahren. Bis sie das Instrument der Schuldenbremse einführte. Sie ist der Grund für die vergleichsweise tiefe Verschuldung der Schweiz. Und auch sie ist ein Grund zur Zuversicht.

Der Wert gesunder Staatsfinanzen ist gerade in Zeiten der Instabilität unermesslich. Sie machen den Staat stark und resilient für Krisen. Sie ermöglichen es ihm, in die Sicherheit zu investieren, in die militärische und in die soziale, in die Bildung, in die Infrastruktur – und auch einen Beitrag an die Welt zu leisten.

Geschätzte Damen und Herren

Ich komme zum Schluss. Inzwischen ist in Deutschland längst ein anderer Finanzminister am Werk. Auch er will, dass Deutschland seine Hausaufgaben macht. Und er hat mir unlängst über die Medien ausrichten lassen: Ich müsse mir wegen Deutschland keine Sorgen machen! Ich nehme ihn sehr gerne beim Wort. Ich wünsche es Deutschland und auch der Schweiz.

Ich bedanke mich bei Herrn Professor Matteotti und beim ganzen Team der Uni Zürich für die Organisation dieser Veranstaltung, für die Einladung, für Ihre wichtige Arbeit und – zu guter Letzt – für Ihre Aufmerksamkeit.

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Letzte Änderung 26.04.2024

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