«Wir sollten nicht den einfachsten Weg wählen, sondern den richtigen»
NZZ (René Scheu) - Sie wacht über die Bundesfinanzen, lobt die Tugend des Sparens und hält sich mit Boxen fit: Finanzministerin Karin-Keller Sutter spricht über die Risiken, die von der wachsenden globalen Staatsverschuldung ausgehen – und wie sich die Schweiz am besten dagegen wappnet.
Das Narrativ, dass der Staat kaputtgespart werde, zielt an der Realität vorbei. Dennoch hält sich diese Erzählung hartnäckig.

Frau Bundesrätin, einer Ihrer Vorgänger, der Verfassungsvater und Waadtländer Bundesrat Henri Druey, hat seine Amtsjahre als Finanzminister einmal als «Ruhepause» beschrieben. Ist dies ein Zustand, nach dem Sie sich angesichts der Finanzlage des Bundes zuweilen ebenfalls sehnen – nach Ruhe?
Henry Druey war ja Mitglied der Revisionskommission, die die Bundesverfassung von 1848 erarbeitet hatte. Der Mann hatte damals jeden Tag harte und lange Sitzungen. Angesichts der internationalen politischen Wirren und der Tatsache, dass der Sonderbundskriegs in der Schweiz eben erst zu Ende gegangen war, kann ich seine Aussage deshalb sehr gut nachvollziehen: Das Finanzministerium versprach ihm in seinen Augen eine Ruhepause. Und das Departement war, als es Druey 1851 übernahm, auch tatsächlich überschaubar. Es umfasste mit dem Bundesrat ganze 14 Mitarbeiter, und die Einnahmen stammten im Wesentlichen von der neu gegründeten Post und vom Zoll.
Wie gross ist Ihre Unruhe, wenn Sie auf den Bund blicken, dessen Etat mittlerweile über 85 Milliarden Franken beträgt, Tendenz steigend?
Der Staat ist seit Drueys Zeiten ständig gewachsen und hat mehr Aufgaben übernommen, zum Beispiel auch die Landesverteidigung. Gegenwärtig wachsen die Ausgaben stärker als die Einnahmen, und spätestens hier wird klar: Das muss mich als Finanzministerin natürlich schon beunruhigen.
Hinzu kommen weitere Unruheherde: der Untergang der Credit-Suisse, politische Versuche, die Schuldenbremse zu relativieren, die Staatsverschuldung westlicher Staaten, unausgegorene Volksinitiativen. Haben Sie überhaupt noch Zeit, sich strategische Gedanken zu machen, oder sind Sie angesichts der Zeitläufte eher eine Getriebene?
Ich gebe zu: Die Agenda ist dicht, die Aufgabenfülle beträchtlich. Es ist nicht immer einfach, Zeit für grundsätzliche Überlegungen zu haben. Aber es ist notwendig, und deshalb nehme ich mir diese Zeit. Die Sanierung der Bundesfinanzen und die Einhaltung der Schuldenbremse sind per se fundamentale strategische Aufgaben der Regierung unseres Landes. Sie haben höchste Priorität.
Bleiben wir bei der Schuldenbremse: Hand aufs Herz, ist sie wirklich in Stein gemeisselt?
Seit der Abstimmung im Jahre 2001 hat sich im Grunde nicht viel geändert: Die Schuldenbremse wird heute wie damals von linker Seite bekämpft und von bürgerlicher gestützt. Aber natürlich ist es so, dass in finanzpolitisch schwierigen Zeiten die Kadenz der Angriffe auf eine solche Institution zunimmt. Es gibt immer jene, die das Heil in mehr Ausgaben sehen – rein politisch gesehen, ist Schuldenmachen der einfachste Weg, um seine Wünsche im Hier und Jetzt zu erfüllen. Nur, dieser Weg hat einen Preis. Und den Preis zahlen die anderen, die noch nichts zu sagen haben oder womöglich gar noch nicht geboren sind: Sie erben die Schulden, die wir heute machen, diese zusätzlichen Steuern von morgen. Ich halte das für falsch. Wir sollten nicht den einfachsten Weg wählen, sondern den richtigen. Dabei hilft mir, dass die Schuldenbremse ein Verfassungsgrundsatz ist – sie wurde damals von fast 85 Prozent der Stimmbürger angenommen.
Kaspar Villiger, ein anderer Ihrer Vorgänger, hat gesagt, die Schuldenbremse stelle einen Pakt des Finanzministers mit dem Volk dar, und zwar gegen die Politik. Klingt natürlich gut. Aber wenn heute wieder darüber abgestimmt würde, wäre die Zustimmung ähnlich hoch – oder hat sich der Zeitgeist gewandelt?
Die allgemeine Einstellung gegenüber der Rolle des Staats hat sich schon ein wenig gewandelt, spätestens seit Corona. Manche sind heute schneller bereit, nach staatlicher Hilfe zu rufen, sobald sich irgendwo eine finanzielle Unebenheit abzeichnet. Das gilt nicht nur für linke Kreise, sondern auch für Teile der Wirtschaft. Das scheint mir neu. Aber noch immer sind Eigenverantwortung und Leistungsbereitschaft in der Eidgenossenschaft zum Glück weit verbreitet. Die Schuldenbremse ist auch heute noch stark in der Schweizer Mentalität verankert. Herr und Frau Schweizer wissen, dass der Staat auf die Dauer nicht mehr ausgeben kann, als er einnimmt. Deshalb würde ich mir angesichts der vielen Angriffe eigentlich wünschen, dass wir wieder einmal eine Volksabstimmung dazu hätten – die Schuldenbremse ginge daraus gestärkt hervor.
Kritiker monieren, die Schuldenbremse verhindere notwendige und wertvolle Investitionen in die Infrastruktur, von öffentlichem Verkehr bis Bildung. Was antworten Sie ihnen?
Dass das Gegenteil der Fall ist, wie unsere Zahlen zeigen. Die Investitionen haben nach Einführung der Schuldenbremse nicht abgenommen. So hat der Bund viel in die Strasse und die Bahn investiert und auch die Ausgaben für Bildung und Forschung – das sind zwar keine Investitionen im engeren Sinn, aber sie werden doch auch immer wieder so gewertet – haben zugenommen. Trotz Schuldenbremse.
Warum verfängt das Argument politisch in gewissen Kreisen trotzdem?
Tut es das? Man betrachte auch das europäische Ausland, und ich sage das nicht triumphierend, sondern eher besorgt: Die hoch verschuldeten Staaten in Europa sind auch jene, die eine darbende Infrastruktur haben. Der Grund liegt auf der Hand: Schulden werden nicht aufgenommen, um das Geld zu investieren; es geht schlicht in den Konsum. Man darf also festhalten, dass Regierung und Parlament in der Schweiz in dieser Hinsicht in den letzten 20 Jahren einen nicht allzu schlechten Job gemacht haben.
Entweder man ist sparsam – und investiert. Oder man kann nicht haushalten, lebt über seine Verhältnisse und investiert auch nicht. Vor diesem Hintergrund muten Diskussionen, die wir im Inland über den Staatshaushalt führen, ziemlich realitätsfremd an.
Ich gebe Ihnen recht. Aber das ist natürlich auch eine Wohlstandsfrage. Blicken wir etwas zurück, ist die Eidgenossenschaft durch viele Krisen besser durchgekommen als andere Länder – durch die Finanzkrise 2008, durch die Euro-Krise, durch die Corona-Krise. Man könnte den Eindruck gewinnen, die Schweiz sei unverletzlich. Doch der Eindruck trügt. Dass es der Schweiz wirtschaftlich besser geht als anderen Ländern, ist nicht gottgegeben, sondern menschengemacht. Es hat mit vorausschauendem Handeln und bewährten Institutionen zu tun – unter anderem mit unserer Fiskaldisziplin, vergleichsweise tiefen Staatsschulden und einer eigenen Währung. Wir wissen, dass wir in einer Krise auf uns allein gestellt sind, selbst verantwortlich sind für unseren Haushalt. Das ist unser Risiko, aber zugleich unsere grosse Chance – Entscheid und Haftung gehören hier zusammen.
Je disziplinierter der Staat, desto handlungsfähiger ist er zugleich?
Absolut. Wenn der Schuldendienst immer mehr vom Etat auffrisst, beeinträchtigt dies das staatliche Handeln. Die hohe internationale Staatsverschuldung ist ein Pulverfass. Sie bedroht die Finanzmarktstabilität und die weltweite Konjunktur. Davon ist auch die Schweiz betroffen – aber wenn sie ihr Haus in Ordnung hält, kommt sie besser durch allfällige Krisen.
Zweifellos. Nur weist die Schweiz de facto in der jüngeren Vergangenheit ein beträchtliches Staatswachstum auf – der Etat hat sich in den letzten Jahren inflationsbereinigt verdoppelt, der Sozialstaat sogar verdreifacht.
Die Staatsausgaben sind in den letzten Jahren tatsächlich stark angestiegen. Entscheidend ist aber, ob dies erstens im Gleichschritt mit den Einnahmen passierte. Das schreibt die Schuldenbremse vor, und das wurde bisher eingehalten. Und zweitens, wie sich die Staatsausgaben im Vergleich zur Wirtschaft entwickelt haben. Da sehen wir, dass die Staatsquote seit längerer Zeit stabil ist. Es ist völlig klar: Das Narrativ, dass der Staat kaputtgespart werde, zielt an der Realität vorbei. Dennoch hält sich diese Erzählung hartnäckig, kombiniert mit der Behauptung, es gehe den Schweizerinnen und Schweizern schlechter. Diese Verelendungsthese wird von jenen kultiviert, die stets neue Forderungen an den Staat stellen – und deshalb auf wachsende Einnahmen setzen. Was sie verschweigen: Der Wohlstand der Bevölkerung ist insgesamt gestiegen. Ein Blick zurück oder ein Gespräch mit den Eltern kann da die Dinge zurechtrücken.
Trotzdem ist das Jammern und Klagen weitverbreitet. Diesen Eindruck gewinnt jedenfalls, wer die Medien konsumiert. Wie kommt das?
In einer wohlhabenden Gesellschaft steigen auch die Ansprüche. Daraus leitet sich auch eine Art des Anspruchsdenkens ab, die für Wohlstandsgesellschaften typisch ist: Man fragt sich nicht mehr primär, was man selbst leisten muss, um seine Ziele zu erreichen, sondern man stellt Forderungen an den Staat, von dem man erwartet, dass er das gewünschte Ergebnis garantiert.
Es klingt paradox, aber es trifft zu: Je höher der breite objektive Wohlstand einer Gesellschaft, desto grösser ist das Unwohlsein bezüglich der bestehenden Ungleichheiten, oder anders gesagt: desto stärker wird die Gleichheitsorientierung.
Was man feststellen kann: Viele Leute bekunden zunehmend Mühe damit, zu akzeptieren, dass nicht alle Menschen gleich talentiert, leistungsfähig und leistungswillig sind. Diese Unterschiede münden in unterschiedliche Lebensmodelle und auch Vermögensverhältnisse. Dabei ist eine solche Vielfalt der Menschen und menschlichen Verhältnisse doch völlig normal, ja eigentlich das Salz einer Gesellschaft. Stattdessen vergleichen sich alle mit allen und sind mit dem Vergleich zuweilen unzufrieden. Denn es gibt stets jemanden, der ein grösseres Haus oder Auto hat. Wir können deshalb auch in der Schweiz im öffentlichen Diskurs eine Verschiebung von der Chancengleichheit hin zur Ergebnisgleichheit beobachten – eine unheilvolle Entwicklung.
Ist die Schweiz zu einer Neidgesellschaft geworden?
Nein. Es ist eine Minderheit, die so denkt. Aber die Medien geben ihr viel Raum. Umgekehrt ist der Mensch – seien wir ehrlich – bequem. Wenn er etwas schmerzfrei bekommt, dann nimmt er es sich eben. Daraus kann eigentlich niemandem ein Vorwurf gemacht werden.
Die Schuldenbremse wird von linker Seite bekämpft und von bürgerlicher gestützt

Wohlstand führt zu Verwöhnungseffekten, Verwöhnung führt zu Anspruchsdenken – und die Ansprüche sind potenziell nach oben offen. Was bedeutet das für die Schweiz?
Das ist mir zu deterministisch. Wenn ich meinen Freundes- und Bekanntenkreis betrachte, so sehe ich eben beides: Leute, die ihr Leben kostentechnisch mit Blick auf Pensen, Salär, Steuerquoten und Verbilligungen und Bezuschussungen optimieren. Und auch Leute, die unglaublich leistungsorientiert sind und sich und anderen beweisen wollen, dass sie es selber schaffen.
Interessanter Punkt. Wie sind Sie selbst sozialisiert worden?
Meine Eltern waren Gewerbetreibende, da gab es keine Trennung zwischen Arbeit und Leben. Mein Vater wollte selbständig sein, er sagte uns immer: Ich will lieber weniger verdienen, dafür aber mein eigener Chef sein. Das hat mich natürlich geprägt. Wenn ich von den Eltern etwas wollte, dann gab es kaum etwas geschenkt – ich musste mein Ziel formulieren und auch, wie ich es erreichen wollte. Es war auch nicht das Ziel meiner Eltern, den Kindern etwas zu vererben. Stattdessen sagte mein Vater, sie seien verantwortlich bis und mit Ausbildung, und dann man müssten wir Kinder selber schauen. Ich fand – und finde – dies eigentlich eine gesunde Einstellung.
Früher sprach man vom Vater Staat. Der Philosoph Peter Sloterdijk hat den Begriff des Allomutterstaats ins Spiel gebracht – alle Kinder alias Bürger buhlen um die Gunst der Mutter, die sie umfassend umsorgt, pflegt, anleitet und durch ihr Leben begleitet. Ist das ein treffendes Bild für die aktuellen Verhältnisse, mittlerweile auch in der Schweiz?
Da schwingt zweifellos viel Ironie mit, wie immer bei diesem Philosophen und Sprachkünstler. Aber es stimmt schon: Der Staat wirkt auch in der Schweiz immer stärker ins Leben seiner Bürger hinein. Und die Bürger haben sich an die Verwöhnungen gewöhnt. Das ist ein schleichender Prozess, der seit mindestens 30 Jahren läuft, aber in der Corona-Zeit hat sich für manche gezeigt: Der Staat kann noch viel mehr, er kann fast alles, wenn er will. Früher war die Masseinheit Millionen, aber hier waren Milliarden das Mass der Dinge – 35 an der Zahl. Anderseits konnte der Bund die 35 Milliarden Corona-Hilfe auch nur sprechen, weil er den Haushalt in den letzten Jahren im Griff hatte und hat. Das geht gerne vergessen.
Hat die Schweiz den Bezug zum Geld verloren?
Das nicht. Aber ein Zusammenhang ist nach den vielen Jahrzehnten des Wohlstandswachstums in den Hintergrund geraten: Das Geld kommt nicht aus dem Bankomaten. Bei mir im Büro steht auch keine Schatztruhe, aus der ich mich bedienen könnte. Man muss das Geld zuerst erwirtschaften, bevor es der Staat via Steuern abschöpfen und verteilen kann. Einerseits ist es ja erfreulich, dass man sich auf den Staat in der Not verlassen kann – denn das ist ja seine Kernaufgabe. Aber anderseits muss sich der Staat auch wieder zurückziehen, wenn es ihn nicht braucht. Denn in einer erfolgreichen Gesellschaft mit funktionierendem Staat gilt: Privat vor Staat!
Sie müssen mittelfristig rund 5 Prozent des Bundesbudgets einsparen, um die Schuldenbremse einzuhalten. Als Privatperson würde ich sagen – 5 Prozent geht immer. Wie sehen Sie das?
«5 Prozent kann man doch rausschwitzen» – ja, das höre ich oft aus Wirtschaftskreisen. Der Unterschied zur Privatwirtschaft ist aber, dass knapp 80 Prozent der Bundesausgaben Transferausgaben sind, das heisst: Der Bund ist einfach Verteilmaschine, Durchlauferhitzer. Rund zwei Drittel der Bundesausgaben sind zudem gesetzlich gebunden, also zum Beispiel für den Finanzausgleich, die AHV, die IV, Ergänzungsleistungen und so weiter – diese Zahlungen könnte man erst nach einer Verfassungs- oder Gesetzesänderung anpassen. Sie sehen: Es bleibt ein Drittel an schwach gebundenen Ausgaben, und da geht es etwa um Landwirtschaft, Bildung, Forschung oder Entwicklungszusammenarbeit. Und in diesem Bereich soll man nun 5 Prozent des ganzen Etats sparen? Das sind dann rund 15 Prozent dieser Ausgaben, was ein harter Einschnitt wäre. Das ist keine leichte Aufgabe, denn eben: Die Bundesausgaben sind recht unflexibel.
Also schaffen Sie das nie?
Kurzfristig ist das in der Tat sehr schwierig. Mittelfristig muss man aber auch über Transferzahlungen und gebundene Ausgaben sprechen können – und ich bin sicher, dass die Schweiz trotz Ächzen und Klagen weiterhin reformfähig ist. Wir müssen in der Lage sein, Gesetze und Verfassung mit dieser Zielsetzung anzupassen, natürlich nach der gebotenen öffentlichen Diskussion.
Die Diskussion dürfte eine Kakophonie werden – denn alle Lobbys, Interessenorganisationen und Anspruchsgruppen werden an ihren staatlichen Segnungen festhalten wollen.
Das ist so, klar. Aber das gehört zur Demokratie. Letztlich braucht es für Reformen einen gesellschaftlichen und politischen Konsens. Der Prozess ist schmerzhaft, aber unumgänglich.
Sie haben viel Unruhe und viel zu tun. Den Fokus holen Sie sich zurück, indem Sie in den Boxring steigen, so habe ich gelesen. Stimmt das?
Eine Stunde pro Woche, regelmässig. Das tut gut. Man vergisst alles – ausser eben das Boxen. Da geht es um Koordination und Taktik, ums Abwehren und die Vorbereitung für den Gegenschlag. Boxen ist ein sehr anspruchsvoller Sport.
Wandern?
Dafür fehlt mir die Zeit. Doch ich habe eine andere Fokusübung: die Lektüre. Nicht das Lesen von Akten, das zu meinem politischen Alltag gehört, sondern jenes von Büchern. Das schärft den Blick und bringt einen auf neue Ideen.
Welches Buch lesen Sie gerade?
Alles Mögliche, ich bin ein neugieriger Mensch. Zuletzt habe ich die Erinnerungen von Wolfgang Schäuble und «Hillbilly Elegie» von J. D. Vance gelesen.