Karin Keller-Sutter über die Rede von J. D. Vance: «Es war eine liberale Rede, die in gewisser Hinsicht sehr schweizerisch war»
Le Temps, Frédéric Koller – Die Bundespräsidentin analysiert die Rede des US- Vizepräsidenten an der Münchner Sicherheitskonferenz. Sie reagiert auf die Kritik aus Washington an Europa und ruft in Bezug auf die Bilateralen die Wirtschaft auf, aktiv zu werden.
Dies ist eine Übersetzung, Originaltext auf Französisch.
Im vergangenen Jahr war keine Bundesrätin und kein Bundesrat nach München gereist. An der 61. Ausgabe der Münchner Sicherheitskonferenz sind nun Verteidigungsministerin Viola Amherd und die Bundespräsidentin anwesend. Nur wenige Minuten nach der Rede des Vizepräsidenten J. D. Vance, in der sich dieser sehr kritisch gegenüber Europa geäussert hatte, hat Karin Keller-Sutter exklusiv auf die Fragen von Le Temps geantwortet.
Le Temps: Wie sind Ihre Eindrücke aus München?
Karin Keller-Sutter: Sie sind vielfältig. Am Donnerstag habe ich an einer Konferenz zur Bekämpfung der Terrorismusfinanzierung teilgenommen. Am Freitag war ich dann bei der Eröffnung der Konferenz dabei und hatte viele bilaterale Treffen.
Haben Sie mit Vertretern der neuen US-Regierung gesprochen?
Nein. Niemand kennt die konkreten Absichten und Pläne der USA. Es scheint, als ob der Zugang zu den US-Behörden sehr beschränkt ist. Man hat den Eindruck, dass sie aktuell nur Ankündigungen tätigen, ohne dass diese in Gesprächen vertieft werden können. Vielleicht ist es noch zu früh, diese Regierung führt erst seit drei Wochen die Amtsgeschäfte.
Was haben Sie über die Rede von Vizepräsident J. D. Vance gedacht?
Es war eine sehr liberale Rede. Sie war in gewisser Hinsicht sehr schweizerisch, wenn er sagt, dass man auf die Bevölkerung hören soll.
War er nicht sehr hart gegenüber Europa?
Damit war zu rechnen.
Teilen Sie seine Kritik?
Es steht mir nicht zu, ein Urteil über die Europäische Union oder die USA zu fällen. Er hat über Werte gesprochen, die es zu verteidigen gilt und die wir teilen, wie die Freiheit und die Möglichkeit der Bevölkerung, ihre Meinung zu äussern. Es war ein Plädoyer für die direkte Demokratie. Man kann es so betrachten.
Er hat die Zensur vonseiten der EU angeprangert. Stimmen Sie ihm zu?
Das ist seine Meinung. Er hat auch einen sehr liberalen Grundsatz zum Ausdruck gebracht, den ich teile: Wir müssen die Meinungen anderer nicht teilen, aber dafür kämpfen, dass sie diese äussern können. Es war wichtig, dies vor Ort zu hören.
Er hat auch gesagt, dass die Bedrohung nicht von aussen, sondern von innen komme. Russland hat er dagegen mit keinem einzigen Wort kritisiert. Hat Sie das überrascht?
Nein, das kam nicht überraschend. Der Vizepräsident spricht nicht über den Konflikt in der Ukraine, obwohl dies das Thema ist, das uns alle, auch in der Schweiz, am meisten beschäftigt. Die Leute, mit denen ich gesprochen habe, haben mir dies bestätigt.
Werden wir gerade Zeuge einer radikalen Wende in der US-Politik?
Ich weiss nicht, ob es eine radikale Wende ist. Man weiss gar nichts Konkretes.
Man versteht es so, dass Europa der Feind ist und man sich mit Russland arrangieren muss, oder?
Diesen Eindruck habe ich überhaupt nicht. Die Schweiz begrüsst die Initiative der USA, den Prozess für einen möglichen Waffenstillstand voranzutreiben, welcher zu einem Frieden führen soll. Zum jetzigen Zeitpunkt kennt niemand die Pläne der USA. Die Schweiz ist für einen Frieden, der für die Ukraine gerecht und dauerhaft ist. Ich habe im Januar mit Präsident Selenski gesprochen und ihm erneut zugesichert, dass wir bereit sind, einen Prozess für exploratorische Gespräche zu unterstützen. Wenn es Gespräche zwischen den USA und Russland gibt, muss, damit diese zu einem Ergebnis führen, die Ukraine natürlich eingebunden sein, aber auch Europa und der globale Süden.
Gibt es Hoffnung, dass Verhandlungen in der Schweiz stattfinden?
Ich habe Herrn Selenski und EU-Ratspräsidenten Costa gesagt, dass wir bereit sind, eine zweite Konferenz abzuhalten. Sie muss aber gut vorbereitet sein. Am Wichtigsten ist es, den Krieg zu beenden. Präsident Trumps Methode besteht darin, etwas anzukündigen, anschliessend gibt es dann eine Entwicklung. Ich weiss nicht, ob die Ausgangslage sehr konkret ist, wahrscheinlich ändert sie sich noch.
Muss man sich an den Fakten festhalten und dem, was gesagt wird, nicht zu viel Beachtung schenken?
Ja. Die Ankündigungen sind ein Weg, Verhandlungen aufzunehmen. Man darf nicht nach jeder Ankündigung in Panik verfallen.
Welchen Beitrag muss die Schweiz zur Sicherheit des europäischen Kontinents leisten?
Unser Beitrag unterscheidet sich von demjenigen der anderen. Es gibt den humanitären Bereich, die Minenräumung, die Investitionen in die Armee, um die Verteidigungsfähigkeit wiederherzustellen. Man kann nicht sich nur auf andere verlassen, wir müssen ein zuverlässiger Partner innerhalb Europas sein. Und es gibt die Guten Dienste. Es gibt auf Anfrage von Kiew ein Interessenvertretungsmandat zwischen der Ukraine und Russland, das wir prüfen. Dies ist der Bereich, in dem wir glaubwürdig sind. Wir werden sehen, ob dies zum Erfolg führt.
Wird die Neutralität der Schweiz immer wieder von den europäischen Partnern thematisiert?
Nein, überhaupt nicht.
Auch nicht im Hinblick auf die Wiederausfuhr von Waffen?
Nein, im Gegenteil. Man ist der Schweiz dankbar für das, was sie tut. Man hat verstanden, welche Rolle sie einnehmen konnte. Mit der Konferenz auf dem Bürgenstock haben wir eine Verbindung zu den Amerikanern für mögliche Folgegespräche aufrechterhalten. Man darf unsere Rolle nicht zu hoch gewichten, aber sie wird anerkannt.
Welches ist aktuell die grösste Bedrohung für die Schweiz?
Die Cybersicherheit. Ich glaube nicht an eine direkte Aggression. Wir müssen in diesem Bereich noch unsere Hausaufgaben machen.
Ist fehlende Meinungsfreiheit, von der J. D. Vance spricht, wenn er die Bekämpfung der Desinformation anprangert, auch eine Bedrohung für die Schweiz?
Natürlich, heutzutage gibt es die sozialen Medien. Aber Desinformation gab es schon immer. Schauen Sie sich die Propaganda der Nazis an. Ich glaube aber, dass wir eine reife Gesellschaft haben und die Schweizer Bevölkerung mit der direkten Demokratie sensibilisiert ist. Es gibt keine Zensur in der Schweiz. Vielleicht ist der Vizepräsident von den politischen Konflikten in den USA geprägt.
Bilaterale: «Die Wirtschaft muss aus der Deckung kommen.»
Karin Keller-Sutter erwartet von den Unternehmen, dass sie aktiv werden und erklären, warum die Schweiz die mit Brüssel ausgehandelten Abkommen für die Unterstützung der Wirtschaft braucht.
Haben Sie die bilateralen Beziehungen mit den europäischen Partnern angesprochen?
Ja, natürlich. Die Vertreterinnen und Vertreter der Staaten, mit denen ich gesprochen habe, sind mit den Ergebnissen zufrieden. Es geht voran. Wir stabilisieren die Beziehung.
Sind Sie davon überzeugt, dass die Schweiz endlich die richtigen Abkommen hat?
Es ist ein erster Schritt. Der Bundesrat hat den materiellen Abschluss der Verhandlungen zur Kenntnis genommen. Das EDA [auswärtige Angelegenheiten] bereitet den Vernehmlassungsentwurf vor. Ich erkläre alle meinen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern, dass dies kein Spaziergang ist. Es sind noch einige Schritte zu gehen. Im Anschluss an die Botschaft des Bundesrates befasst sich das Parlament im nächsten Jahr damit, und es wird sicherlich eine Volksabstimmung geben. Erst dann wird das Ganze abgeschlossen sein. De Staaten, die der Schweiz nahestehen, kennen unser politisches System.
Sind Sie als Finanzministerin auch bereit, für diese Abkommen zu kämpfen?
Der gesamte Bundesrat wird sich dafür einsetzen, um die Vor- und Nachteile dieses Vertrags zu erläutern.
Sind Sie persönlich von den Vorteilen dieser Abkommen überzeugt?
Es gibt keine persönliche Meinung, sondern nur eine Meinung – diejenige des Bundesrates: Die bilateralen Beziehungen mit der EU müssen stabilisiert und vertieft werden. Wenn man die Abstimmung von 1992 über den EWR miterlebt hat, ist man wirklich gut beraten, ruhig und nüchtern zu bleiben und sachlich zu erklären, welche Folgen ein Ja oder ein Nein hätte. Wir wissen, dass diese Frage spaltet. Mit Ausnahme der SVP sind die Parteien entweder geteilter Meinung oder noch unentschlossen. Man muss daher sehr vorsichtig sein und den Leuten die Möglichkeit geben, sich eine Meinung zu bilden. Die politischen Parteien werden eine wichtige Rolle spielen. Und auch die Wirtschaft. Wir schliessen diese Verträge ab, damit die Schweizer Wirtschaft einen dauerhaften Zugang zum europäischen Markt hat. Der Bundesrat erwartet daher, dass die Wirtschaft aus der Deckung kommt. Es ist Aufgabe der Unternehmen zu erklären, warum sie diese Abkommen brauchen.
Tun sie dies bislang nicht?
Man hat nicht den Eindruck, dass sehr viel Leidenschaft dahintersteckt.
Sind Sie enttäuscht?
Nein, das ist lediglich eine Feststellung. Meine Botschaft ist einfach: Es handelt sich um Abkommen zugunsten der Wirtschaft, es ist daher auch Aufgabe der Wirtschaft, ihre Interessen zu verteidigen. Auch dort spürt man eine gewisse Spaltung. Als reiner Beobachter kann man keine Politik machen. Man kann nicht einfach erwarten, dass der Bundesrat die ganze Arbeit macht. In einer lebendigen direkten Demokratie muss man sich beteiligen. Die betroffenen Akteure werden meist dann aktiv, wenn sie gegen etwas sind. Sie sollten sich aber auch dann beteiligen, wenn sie für etwas sind.
Was antworten Sie der SVP, die von einem Unterwerfungsvertrag spricht?
Ich muss der SVP nicht antworten. Dies ist eine legitime Haltung. Es gibt politische Gruppierungen, die das so sehen, und wir werden diese nicht umstimmen können. Wir müssen die Unentschlossenen überzeugen und ihnen die Chance geben, die Verträge zu lesen und sich ihre eigene Meinung zu bilden. Ich verstehe diejenigen, die zuerst die Texte und das Ergebnis des internen Prozesses zwischen den Sozialpartnern sehen möchten. Wir müssen geduldig sein und nicht diejenigen kritisieren, die eine andere Meinung haben.
Welches sind Ihre nächsten internationalen Termine?
Ich werde als Finanzministerin für das Treffen der G20 nach Südafrika reisen. Im Mai findet ein Gipfel der Europäischen Politischen Gemeinschaft statt. Vor kurzem war ich in Österreich. Meine Priorität liegt auf den Nachbarstaaten, sicherlich bei Deutschland.
Federal Councillor Karin Keller-Sutter

Presidential year 2025
Karin Keller-Sutter will serve as Federal President in 2025.

Biography
Federal Councillor Karin Keller-Sutter has been Head of the Federal Department of Finance FDF since January 2023.

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